Männliche Lebenskraft

Mein Vater

Er war ein hoch sensibler Mann. Ich suchte hinter seiner eisernen Strenge und Verschlossenheit seine zärtliche und spirituelle Seele (siehe Titel-Foto), die spürbar, aber verborgen war.

Sein Studierzimmer in unserer Wohnung war sein Reich. Dort lebt er. Wenn ich etwas wollte von ihm, so hatte ich anzuklopfen. Das kam nicht selten vor. Bevor ich anklopfe spürte ich heftiges Herzklopfen. Würde ich die Wand seiner Strenge und Diszipliniertheit durchdringen können, würde ich ihm begegnen oder an seiner Strenge abprallen?

Wenn meine Mutter sich zum täglichen Einkauf bereit gemacht hatte, musste sie ihn – den Herrn des Hauses – um das nötige Einkaufs-Geld bitten. Sie streckte ihm die leere, hohle Hand entgegen. Zögerlich warf er ein paar Frankenstücke in die Hand. Niemals genug. Sie wartete solange bis es reichte, um einkaufen zu können. Sie nahm täglich dieses Demütigungs-Ritual auf sich, sie beugte sich, obwohl sie es war, die das Geld, das unserer Familie brauchte, erarbeitete. Sie war Filialleiterin eines Warenhauses. Mein Vater erarbeitete sich mit wenigen Artikeln, die er für Zeitungen schrieb eine Art von Taschengeld.
Auch ich beugt mich, bekam einen runden Rücken.

Mein Vater war so zwanghaft diszipliniert zu sich selbst, wie er zu allen anderen Menschen auch war.

Staub gab es in seinem Zimmer nie. Er staubte täglich alles ab. Hochglanz und Einsamkeit, auch Selbstverlorenheit waren hinter seiner Strenge spürbar.
Manchmal explodiert er; er neigte zu Jähzorn. Aber selten.

Der disziplinierte Mann hält sich und seine Lebenskraft an kurzer Leine

Viele Männer, so wie ich, lernten ihre Lebenskraft zu bändigen. Wir haben gelernt unsere Aggressionen, unsere Wildheit und unsere Lebenskraft in einen Käfig zu sperren oder an die Leine zu nehmen. An eine kurze Leine, denn wir misstrauen ihr. Wir denken zurück an die Kriege, die wir Männer, vor allem im letzten Jahrhundert geführt haben. Diszipliniert wie sie waren, liessen sich die Soldaten an die Front schicken. Millionen von Toten. Hunderttausende von vergewaltigen Frauen. Wir denken an die grossen Reiche des Nationalsozialismus; wir denken an die Zaren, an den Stalinismus, an Napoleon. – Meist unbewusst.
Nach all dem trauen wir unserer männlichen Lebenskraft nicht wirklich, wir Mars-Männer. Wir sind oft auch Frauen gegenüber zurückhaltend. Zurückhaltender als es diesen lieb ist. Wir sind gefährlich. Unsere Kräfte haben ein zerstörerisches Potential. Das sagen uns auch manche Frauen. Also halten wir uns an kurzer Leine.

An einem Männer-Seminar zum Thema «Der wilde Mann» geleitet vom Franziskaner Richard Rohr sah ich viele traurige Männer.

Viele Männer sind traurig darüber, dass sie nicht mehr wild, sondern gebändigt und diszipliniert sind und nicht wissen, wie sie ihre Kraft mit Zärtlichkeit verbinden können.

 

Inzwischen

Inzwischen sind die Jahre vergangen. Ich habe gelernt Kraft und Zärtlichkeit zu vereinen und habe schrittweise gelernt (und lerne immer noch) meiner Kraft zu vertrauen, sie «wildern» zu lassen, sie ihre Wege gehen zu lassen, zu streunen, intuitiv und instinktiv.

Ich lerne, dass meine Aggressionen mir helfen, mich zu verwirklichen.
Aggression kommt von aggredi = sich zubewegen, heran schreiten, sich nähern und nicht zerstören. Nur die unterdrückte, gestaute und verdrängte Aggression/Kraft verwandelt sich in Gewalt.

Das weiss ich inzwischen. Dennoch müssen viele Männer-Menschen wieder einen positiven Zugang finden zu ihrer Kraft, zu Mars.
Inzwischen haben viele Frauen einen gelösteren Umgang gefunden zu ihrer Kraft, als die Männer im Allgemeinen.

Wir Männer müssten noch tiefer in unseren weiblichen Seelen-Anteil vorstossen, um von dieser Tiefe aus wieder erneuert und belebt in unserem eigenen Geschlecht Einzug zu halten. Nun aber elastischer, erneuert im weiblichen Eros und in Verbundenheit mit Liebe.

Weniger Disziplin – mehr schöpferische Freiheit

Wie erwähnt müssten wir Männer wieder Vertrauen gewinnen in unser aggressives und kämpferisches Potential, nachdem es eine lebensbejahende Verbindung mit unserer zärtlichen und liebenden Seite in uns eingegangen ist. Dafür bräuchten wir wahrscheinlich die Hilfe von Frauen.

Von der Leine nehmen

Lassen wir also das wilde Tier in uns, unsere archaische und schöpferische Seite, ja auch die kämpferische Lebenskraft frei! Sie wird sich mit der Lebensfreude (ihrer Schwester) verbünden.

Wenn wir Gutes tun wollen für unsere leidende Welt, so benötigen wir Männer Vertrauen in unsere Kräfte.

 

2 Gedanken zu „Männliche Lebenskraft“

  1. Als Kind war ich stets traurig, wenn Männer/Väter sich nicht mit ihrer Rolle im tiefsten Grund identifizieren konnten.

    Es sollten sich alle Männer mit dem, was Du in diesem Text angesprochen hast, auseinandersetzen müssen.
    Dasselbe gilt entsprechend auch für Frauen/Mütter.

    Mich langweilen Diskussionen über Frauen und Männer in Presse und Fernseher meist. Es würde vielen Gescheh-nissen auf dieser Welt über dieses Thema vorgebeugt, wenn beide Geschlechter auf ihre Rolle durch ehrliche und sachliche Art vorbereitet wären.

    Nicht zu vergessen sind die Kirchen mit ihren patriar-chalen Strukturen!
    Wären alle Priester, Pfärrer und Nonnen gezwungen, sich mit ihrer „Kirche“ auseinanderzusetzen und in Offenheit mit ihren Aufgaben, sähen sie, wieviel sie von dem zerstör-ten und verunmöglichten, ja sogar töteten, was aufgebaut werden müsste. Und die Kirche könnte adäquat auf die Schreiben von missbrauchten Opfern reagieren und ihre Verantwortung übernehmen.

    Es darf auch nicht mehr passieren, dass Menschen mit von der „Norm“ abweichendem Geschlecht von irgendjemand ausgegrenzt werden. Vielmehr sollten sie mit notwendiger Unterstützung rechnen dürfen!

  2. Als Kind war ich stets traurig, wenn ich merkte, wie Männer/Väter sich mit ihrer Rolle nicht wirklich identifi-zieren konnten, aus welchen Gründen auch immer. Natürlich geschah dies bei mir sehr gefühlsmässig und unbewusst.

    Eigentlich sollten alle Männer sich mit dem Inhalt, den Du in Deinem Artikel beschrieben hast, auseinandersetzen müssen. Dies wäre auch für Frauen/Mütter entsprechend angebracht.

    Am meisten fühlte ich mich zu Menschen hingezogen, die beide Seiten, die männliche und die weibliche Seite integriert hatten und ausstrahlten.

    Mich langweilen die Diskussionen in Presse und Fernseher über die Geschlechter. Es wäre ein Segen für die Welt, wenn Männer wie Frauen aufgeklärt wären und mit ihrem Wesen tief verbunden lebten.

    Nicht zu vergessen die Kirchen mit ihren patriarchalen Strukturen.
    Es ist an der Zeit, dass sich die ganze „Mannschaft“ und
    „Frauschaft“ mit all den Erkenntnissen der Neuzeit befassten und nicht den Kopf in den Sand steckten, sähen, was sie mit ihrer Haltung zerstörten und endlich aufwachten und Verantwortung übernähmen. Es müsste sie erschrecken, nähmen sie das ganze Elend wahr, das sie (aus Unwissen?) angerichtet haben.
    Es darf auch nicht mehr sein, dass Menschen wegen ihres von der „Norm“ abweichenden Geschlechts ausgegrenzt werden, sondern die notwendige Unterstützung erhalten. Einiges wäre gewonnen.

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