Reflexionen über das menschliche Gesicht

In den letzten Tagen und Wochen erschrak ich einige Male, als ich unvermittelt in ein Gesicht blickte, das vor mir plötzlich auftauchte, wie das oft geschieht, wenn man sich an einem viel begangenen Ort aufhält, wie zum Beispiel in einem Supermarkt. Ich erschrak jeweils über den Gesichtsausdruck, der mir wie eingemeisselt erschien und nur eines auszudrücken schien. Zum Beispiel: «Ich schlage mich hier einfach durch!» oder «Ich passe immer auf!» – oder was auch immer das betreffende Gesicht zu sagen schien.

Ich stellte dann nach einigem Nachdenken und Beobachten fest, dass es viele Menschen gibt, deren Gesichter  ihre charakteristische Art, das Leben zu empfinden und auf es zu reagieren, präzise widerspiegeln.
Es muss das Lebensgrundmuster sein, das sich da visualisiert, eindeutig eingeprägt, eingezeichnet im Gesicht, welches kaum etwas anderes zuzulassen scheint, als eben die charakter-gepanzerte Weise, sich im Leben zurecht zu finden. Da hat sich eine kleine abgeschlossene, ja abgekapselte Identität herausgebildet, eine maskenartige Persönlichkeit (Persona) mit ausschliessendem Charakter.

Danach wurde ich auch auf Gesichter aufmerksam, die nicht nur die vordergründige Reaktionsbereitschaft auf das Leben zum Ausdruck bringen, sondern auch den Erlebnis-Hintergrund. Etwa so: Vordergründiger Ausdruck: «Ich finde mich schon zurecht in dieser Welt», zweite Botschaft:» Ich bin verloren auf dieser Welt, helft mir». Die zweite, hintergründige Botschaft stellt sich gleich nach dem ersten Eindruck ein, wenn man beim Anblick des Gesichtes eine kleine Weile verbleibt.
Manche Gesichter drücken aber auch einen Facettenreichtum aus oder sie erzählen Geschichten.

Das Gesicht lässt sich auch verstehen als die sichtbare Gestalt des Menschen.

So, wie ich das Leben auffasse und auf es reagiere, drückt es sich in meinem Gesicht aus. Man könnte nun denken, dass das menschliche Gesicht, doch sehr viele Facetten des Welterlebens widerspiegeln müsste. Offenbar ist es aber häufig so, dass sich eine Art von Grund-Tenor wie ich im Leben stehe, herauskristallisiert und zu dominieren beginnt und alle anderen Lebens-Nuancen gleichsam aufsaugt und in den dominanten Rahmen stellt.

So wird das Gesicht zur Maske, zur Persona, die alles zu zeigen scheint und alles versteckt. Die ganze Vielfalt und die seelische Lebenstiefe sind maskiert. Mit anderen Worten: Wir neigen dazu, die Welt so zu sehen und zu interpretieren, wie wir es aufgrund unserer Prägungen eingeübt haben. Demgemäss färben wir die Welt ein und sehen sie in der Farbe, die wir auf sie projizieren – während die anderen Farben in Untergrund versinken.

Nun gibt es aber auch Gesichter, die nebst den eingeprägten Qualitäten, Emotionen und Reaktionen noch so etwa wie offenen Lebens-Raum ausstrahlen: Raum für das Unbegreifliche, Unerklärliche, das Zauberhafte und das Erstaunliche des Lebens. Da fühlt man Platz: dieser Mensch nimmt sich Raum und gibt Raum – da ist nicht alles festgelegt. Man spürt: dieser Mensch ist nicht völlig identifiziert mit seinem Charakter seiner kleinen Aussenpersönlichkeit, da ist Luft, da kann sich Neues finden. Da findet sich Ereignisraum, Klang-Raum.

Hier versteht sich die Person als Klangkörper, offen für den durchströmenden Geist, das Geistlicht. Per Sonare (Per-son) meint das Durch-tönende. Materie versteht sich hier als ein Gefäss für das geistige Einströmen. Materie und Geist finden hier zu einem sich ergänzenden Miteinander – im Gegensatz zum trennenden, egozentrischen, eine Kapsel bildende ICH.

Wenn ältere Mensch, die in der zweiten Lebenshälfte damit begonnen haben, sich zu de-identifizieren, um sich von alten, jetzt unpassenden Identifizierungen zu lösen und sich von ihren inneren Strukturen und Zwängen ein Stück weit zu befreien, kommt wieder das Staunen des Säuglings, den sie einst waren, in ihr Gesicht. Diese Gesichter beginnen nun durchlässig und transparent zu werden.

Im Anblick von befreiten Gesichtern können wir uns selbst befreien. In ihnen kann etwas werden, was vorher noch nicht da war. Wenn unser Gesicht freier wird von eingestanzten Prägungen, können sich jene, die uns sehen und uns begegnen, sich weit eher finden, als wenn unser Gesicht, von unseren Konzepten und Vorstellungen über uns selbst festgelegt bleibt. Solche Gesichter verwandeln sich leise in ein Antlitz, in dem das Wesen der Person hindurch strömt.

Bei unserer Wesens-Werdung, bei der sich unser Seelenzentrum mehr und mehr ausweitet,
was man am besten in den Augen erkennen kann, erscheint das Gesicht als weich und belebend, trotz aller Falten, es beginnt zu scheinen und wirkt bewusst und oder unbewusst lebensspendend und frei lassend auf die Umgebung. Allmählich beginnt sich das Angesicht im Gesicht zu zeigen – oder zu erahnen.

Noch was: Wer es zulässt, gesehen zu werden, von den Augen der Wahrheit und der Liebe, wird dieses Anteil-nehmende Umfassende schrittweise integrieren und sein Gesicht wird diese Erfahrung bezeugen.

Im Angesicht, das sich im Seelenzentrum verbirgt und sich zu rechten Zeit teilweise oder ganz offenbart, kann jeder und jede ganz zu sich selber finden. Hier ist vollkommene Freiheit und Angenommensein. Nun können wir alle unsere Masken ablegen. Wir wissen, dass wir geliebt sind. Völlig getröstet atmen wir auf und neue Räume erschaffen sich.

«Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt worden bin.»

  1. Kor. 13,12

Beitragsbild: Zeichnung von Werner Binder

 

 

3 Gedanken zu „Reflexionen über das menschliche Gesicht“

  1. Was für eine schöne und wahre Beobachtung des Gesichtes.
    Was für eine wohltuende Gelegenheit, gleich im Anschluss an den Artikel in den Gesichtern der zwei Personen, die Michelangelo darstellt, den ganzen Inhalt der Seele zu lesen.

    Herzlich
    Jürg

  2. Lieber Werner

    Ich möchte dazu schreiben, dass Gesichter auch eine karmische Wirkung auf uns haben können. Ich habe beim Anblick von Gesichtern von Menschen, denen ich erstmals begegnet bin, einen wirklichen Schrecken erlebt, als ob hinter dieser „Maske“ ein Wesen wohnt, das mir bekannt ist, oder in mir etwas auslöst, was als Schrecken auf Erlebnisse der Vergangenheit weist, wie auch immer, mir wurde bltzartig klar, dass ich mit diesem Menschen schon zu tun hatte, es muss sich um Tiefes handeln…

    Vor 10 Jahren bin ich oft mit einem Märchenerzähler -Paul Strahm- aufgetreten und habe seine Märchen mit Solomusik für Querflöte musikalisch umrahmen dürfen. Da habe ich mich an das folgende chinesische Märchen erinnert, wo es um einen Maler von Gesichtern geht. Das Märchen wurde in Mundart übersetzt und frei vorgetragen; es war immer wunderbar für mich, da mitmirken zu dürfen. Das Märchen geht folgendermassen:

    Der Maler Tuo-lan-ka 8’

    Märchen aus China
    aus: K 103 und D. und M. Stovickova, Tibetische Märchen, Dausien, Prag 1974

    Im Süde vo China, im Tal vom Tai-Volk het emol e Moler gläbt, dr Tuo-lan-ka. Dr Tuo-lan-ka isch alt gsi und mager. Är het langy, wyssy Hoor gha und vily Falte. Är isch ruehyg gsi und still. Aber syny Auge sin läbhaft gsi und ufmerksam, sy hän immer öppys gsuecht.
    Är het am Rand vom Dorf in ere kaputte Bambushütte gwohnt.
    Dr Wäg zum Huus isch nume non e schmale Pfad gsi, zmitts im hoche Gras. Nie isch öpper bi ihm verby choh, und är isch sälte furt.
    Är isch numen ins Dorf, wenn er nüt me z ässe gha het.
    Denn isch er uf e Märt, het ygchauft, isch uf e Bank in Schatte ghockt, het d Auge zämmekniffe, het d Lüt agluegt und sich ihry Gsichter gmerkt. Eso isch er ei, zwei Stunde blibe, denn isch er hei, het sich ybschlosse, het dr Tusch agrüehrt, het d Pinsel und s Papier gholt und het afo mole.

    Är het d Gsichter gmolt, won er uf em Märt gseh het, sibe Gsichter am Tag. Är het sy uf Papier gmolt, uf Syde, uf Holz, uf was ihm grad under d Händ choh isch. Är isch bi syneren Arbet eso fest ins Mole versunke gsi, dass er nüt me ghört het, nit dr Wind, nit der Räge, au nit s Zwitschere vo de Vögel. Är het au nüt me anders gseh als d Gsichter, won er gmolt het. Är isch ganz besässe gsi vo dr Molerei
    Am Änd vo dr Wuche het er sibe mol sibe Bilder an d Wänd ghänkt
    und isch lang vor jedem Bild blybe stoh, het dr Chopf schreg ghebt, d Händ hinder em Rugge verschränkt und het sich still und heimlich gfreut.

    In ere Nacht het er öpper ghören an d Türe chlopfe. Är isch immer no am Mole gsi, bi Cherzeliecht. Dusse hets bös gwitteret.
    „Wär isch do?“, het dr Tuo-lan-ka gfrogt, het aber nit vo sym Blatt ufgluegt. „Y bi dr Tod“, het dussen e chräftygy Stimm gseit. „Y chumm dy cho hole.“ – Dr Tuo-lan-ka het öppys brummlet, isch ufgstande und het d Türen uftoh. E Schwall vo Blätter und Rägen hets in d Hütte gwäjt, und e dunkly Gstalt isch uf dr Schwelle gstande. „Chumm yne“, het dr Tuo-lan-ka gseit, „sitz ab und wart.
    Y mol s Gsicht vo däm Meitli no fertyg.“ Dr Tuo-lan-ka het im Tod dr Rugge zuegchehrt und het wyter gmolt. Dr Tod isch gwundryg gsi, isch lyslig ufgstande, het im Tuo-lan-ka über d Schultere gluegt
    und gseht es strahlends Gsicht. Das isch für ihn en Überraschyg gsi.
    Bis jetz het er nume Grimasse gseh, voll Angst und Schreck.
    Dr Tod isch baff gsi, und s Lächle vo däm Meitli isch em z Härze gange. Äs het en berüehrt und sys Härz weich gmacht.
    Är het nümm gwogt, dr Tuo-lan-ka z störe. Är isch still usen in d Nacht und ins Gwitter und isch in Himmel ufe gstige. Dr König vo de Himmel het en bi dr erste Begegnyg apfurrt und gseit: „Wurum chunnsch elei?“ – „Dr Tuo-lan-ka het grad s Lächle vom ene Meitli gmolt“, het dr Tod gseit, „do han ich ihn nit chönne ewägg rysse.“ –
    „Potzblitz!“, het dr König gseit und glacht. „Dä Tuo-lan-ka isch bis jetz dr einzyg Mensch, wo dy het chönnen yschüchtere. Dä Maa muess e Perle sy. Dä muess y kennelehre. Gang nomol abe und bring mir ihn ufe, no vor em Tag.“

    Dr Tuo-lan-ka het dr Tod ungeduldyg empfange und het gseit:
    „Wo bisch au gsi? Wurum hesch my lo warte?“ Und är het syny Molsache vom Tisch gnoh und under en Arm gchlemmt. Denn het en dr Tod in sy Mantel gwicklet und en in Himmel träit. Dr König vom Himmel het dä schmächtyg Maa vo zoberst bis zunderst gmusteret.
    „Du hesch dys ganze Läbe lang nume Gsichter gmolt“, het er denn gseit. „Wurum keiny Landschafte?“ –„Well d Gsichter vo de Mensche die schönste Landschafte sin“, het dr Tuo-lan-ka gseit. Do het dr König glächlet, het dr Tuo-lan-ka an dr Hand gnoh und en in e Garte gfüehrt. Zmitts drin isch us ere Grotte e klary Quelle gsprudlet.
    „Das isch dy Platz“, het dr König gseit. „Do wirdsch du läbe, bi dr Quelle vom Läbe. Do chasch du Gsichter mole. Und wenn uf dr Ärden es Chind gebore wird, chasch du ihm eis vo dyne Gsichter uswähle unds ihm schänke.“ Dr Tuo-lan-ka het sich sofort an d Arbet gmacht und jede Tag sibe und jedy Wuche sibe mol sibe Gsichter gmolt. Das macht er no hütt und wirds immer mache.
    Und wenn dir ins Gsicht vom ene Chind lueget, denn dänket an Tuo-lan-ka und freuet euch über d Schönheit vom Chind.

    Herzlicher Gruss
    Joachim

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