Seit ich lebe, übe ich mich in Geduld. Sie ist mir nicht in die Wiege gelegt worden; ich muss (darf) sie erarbeiten.
Geduld ist die Zeit, die es braucht, damit sich eine Vision verwirklichen kann, die Zeit, die nötig ist, damit sich das Leben erfüllen kann und im Kleinen ist Geduld die Zeit, damit sich eine Emotion oder ein Impuls voll aufbauen und entfalten kann.
In Ruhe bei dem verweilen, was ist, ist Geduld. Verweile ich zum Beispiel bei aufkommender Trauer und der sich langsam breit werdenden Bewegung, mit der sie sich aufbaut, dann komme ich langsam in die Tiefe meiner selbst und ich erkenne die Ursache meiner Trauer, die zum Beispiel darin bestehen kann, dass ich in meinem Leben zu wenig auf mein Herz gehört habe. Nur wenn ich mir die benötigte Zeit nehme, mich in meine Trauer* (oder wie immer das jeweilige Gefühl ist) zu versenken, kommt es zur nötigen, tiefen Einsicht, die zu einer Verhaltensänderung führt, zu einer Einstellungsänderung oder gar zu einem Wachstumsschub.
Das Abschneiden und Töten aufkommender Impulse und Gefühle, lange bevor sie sich in ihrer ganzen Gestalt aufbauen können, schadet uns. Es ist als, ob wir Blumen ausrupfen würden, lange vor ihrem Erblühen. Es handelt sich hier um Micro-Tötungs-Impulse, meist unbewusst, die damit zu tun haben, dass wir uns nicht vollständig erlauben, zu lieben und zu leben.
Seit Wochen höre ich immer wieder Klaviermusik von Erik Satie, der jeden Ton in sich erlauscht haben muss, bevor er ihn zu Papier gebracht hatte. Es ist langsame, perlende Musik, melancholisch und verträumt, die stark von der lebendigen Zeit der Pausen zwischen den Tönen lebt. (Erik Satie: Gymnopédies oder Gnossienne.)
Nun, da ich älter werde, akzeptiere ich meine Verlangsamung und erfahre, dass dadurch mehr Ruhe und Friede, die Früchte der Langsamkeit, aufkommen können.
Nun lehne ich zurück und atme tief ein und aus. Ich will diesen Artikel langsam und mit Geduld schreiben.
Der Druck, rasch ein Ziel zu erreichen führt zur Ungeduld, zu Stress und oft zu Gewalt. Nur schon der kontinuierliche Druck, den Menschen auf sich selbst ausüben, ist beginnende Gewalt, die krank machen kann. Ungeduld, ständiges Tempo und Gewalt bedingen sich gegenseitig.
Damit etwas Gestalt annehmen kann, braucht es Zeit. Die Zeit fliesst aus der absoluten Welt der Zeitlosigkeit in unsere zeiträumliche, relative Welt.
Zeit ist ein zartes, feines Strömen: Wachstums-Elixier. Sie fliesst in der Geschwindigkeit und in den Rhythmen, die ihr aus höherer Weisheit immanent ist. Manche verstehen Zeit als ein Attribut Gottes.
Zeit ist zart. Zeit ist natürlich, wenn sie nicht durchgeplant, chronologisch ist.
Liebe Leserin, lieber Leser: Wenn Du magst, lehne dich jetzt zurück, schliesse die Augen und denke: Ich lass mir alle Zeit, die ich brauche, um mich ganz selbst zu sein.
Atme und spreche diesen Satz ein paar Mal langsam und liebevoll zu dir selbst.
Vermutlich wirst Du eine Veränderung in Deinem Befinden und in deinen Organen fühlen. Vielleicht fühlst Du alten, sich nun lösenden Druck und aufkommende Leichtigkeit.
Ungeduld und dauernde Beschleunigung führen dazu, dass wir Mensch immer heftiger in die natürlichen Abläufe eingreifen. Bis hin zu massloser Gewalt. Die ganze Welt dreht in dieser Beschleunigungsspirale der Ungeduld, die atemlos und rücksichtslos macht. Durch die überdüngten Böden, Monokulturen und den Einsatz von Mega-Maschinen veröden Landschaft, erodieren und vertrocknen Böden, sterben Wälder. Dies als ein Beispiel von vielen.
Es ist wohl Panik, die zu ständig heftigeren Eingriffe in die Natur der Erde und des Menschen führt.
Ohne Entschleunigung keine Natürlichkeit. Ohne Verlangsamung und Geduld kein Gesundheitswesen, das auf Salutogene beruht.
Salutogenese beinhaltet die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen, der Glaube an die eigene Wirksamkeit und der Glaube an den Sinn des Lebens. Diese Fähigkeiten entwickeln sich langsam und stetig; sie setzen Geduld voraus.
Langsamkeit und Geduld lassen uns erkennen, dass die Seele, in der wir leben, eine milde, sanfte und wissende Substanz ist. Von ihr getragen finden wir in ein friedvolles Leben, jenseits von Stress und Hetze und fernab von Gewalt.
Die Seele umhüllt und durchströmt uns zärtlich und erfüllt uns mit Seins-Seligkeit. Sie gibt uns den Schutz, den wir in dieser hektischen Welt brauchen. Durch Geduld und Geruhsamkeit wird sie uns immer zugänglicher.
Erst jetzt dürfen wir von Nachhaltigkeit sprechen. Sie baut sich auf der Ebene der Seins-Erfahrung auf.
Wenn wir also noch einmal zurücklehnen, ruhig, tief und liebevoll mit dem Satz atmen:
Ich lasse mir alle Zeit, die ich brauche, um mich ganz selbst zu sein,
werden wir vielleicht spüren können, dass sich eine heilende Energie aufbaut, die unter dem Deckel von Ungeduld und Betriebsamkeit darauf gewartet hat, erkannt und gelebt zu werden.
Ich werde nicht damit aufhören, Geduld einzuüben.
*zur Trauer: Die zur Trauer gehörende Energie-Bewegung geht meist sowohl in die Breite, wie auch in die Tiefe, verbunden auch mit einem Lösen von Spannung und Druck, oft im Bauch-Bereich. Nach einiger Zeit kann sich eine Aufwärts-Bewegung einstellen. Wenn diese Bewegungs-Gestalt abgebrochen wird, kann sich der nachfolgende Entwicklungsschritt kaum oder gar nicht einstellen. Dies gilt für alle Gefühle. Es scheint eine Zeit-Krankheit zu sein, nicht bei einem einzelnen Gefühl verweilen zu können.
E-Motion kann man auch lesen und verstehen als Energie (E) in Bewegung (Motion).
Lieber Werner
Ich möchte Dir von Herzen danken für die wundervollen, berührenden Worte zur Geduld. Und zum erlösenden Satz: „Ich lasse mir alle Zeit, die ich brauche, um mich ganz Selbst zu sein.“ Was für eine Wohltat, sich mit seiner Seele zu verbinden!
Und Geduld brauche ich wirklich, vor allem mit mir selber! Ich bin seit vielen Jahren auf dem Pfad der inneren Entwicklung zu mehr Verbundenheit zwischen meinem göttlichen und dem irdischen Sein. Dazu sind Geduld, Ausdauer und Demut nötig. Ich möchte mein ganzes Wesen voller Freude und Fülle auf der irdischen Ebene zum Ausdruck bringen!
Zu den Ursachen der Herausforderungen unserer Zeit, seien sie ökologischer, psychischer oder gewalttätiger Art, sehe ich die vermeintliche Getrenntheit vom göttlichen und ursprünglichen Teil unseres Seins, der göttlichen Seele. Geduld kann uns in die Innenräume führen, die es braucht, um wieder in die bewusste Verbundenheit einzutreten (verbunden sind wir eigentlich immer, wir wissen es nur nicht).
Ist es nicht die gefühlte Getrenntheit vom göttlichen Kern, die uns angstvoll, einsam, gewalttätig, so sehr aus dem Verstand heraus leben lässt? Und doch war diese Trennung durch den Verstand notwendig, um unsere Individualität, unsere Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit auszubilden. In Vielem ist dieser Vorgang noch nicht abgeschlossen. Oft kann erst eine neue Not die not-wendende Kraft spenden wirklich etwas ändern zu wollen. Die vermeintlich negativen Erscheinungen sind aus geistiger Sicht ausgestreuter göttlicher Dünger für die Evolution der Menschheit.
Plötzlich, aus dieser Sicht, hört die Beurteilung in Gut und Schlecht auf. Und ich erkenne in jedem Gesicht, in jedem Menschenherzen, in jeder äusseren Form einen Ausdruck des lichtvollen göttlichen Seins. Entweder ist es noch auf dem Weg der Wiedervereinigung (und wir Menschen sind das alle), oder es ist schon vollkommen, wie zum Beispiel die Natur.
In Liebe
Wolfgang