Grenzerfahrungen

Manchmal komme ich an einen Punkt, wo ich nicht mehr weiter weiss – so, als ob eine Barriere vor mir niederginge.
Oder: ich falle in ein Verhalten zurück, von dem ich dachte, es schon längst überwunden zu haben. Ich werde von Gefühlen übermannt und/oder blockiere mich.
Scheitern. Peinlich. Wie ohnmächtig ich mich fühle.

Das Einzige, was mir dann hilft, ist, dass ich mir diesen Zustand eingestehe. Zu Beispiel: ich kann Gedanken, die mir schaden, nicht stoppen; sie drehen weiter und ich habe keinen Einfluss auf sie. Dann versuche ich mir einfach einzugestehen, dass dem so ist. Ich gebe zu, dass ich mich jetzt ohnmächtig fühle. Dann löst sich manchmal der Klumpen und ich atme wieder durch. Nicht selten aber finde ich mich getröstet wieder, wenn ich mir die Niederlage, das Scheitern, eingestehe.

Die Not zugeben lindert, tröstet.

Es ist immer auch eine Kränkung für das Grössen-Selbst, wenn ich an eine innere oder äussere Mauer stosse, auch eine Ent-Täuschung. «Aha, ich bin noch nicht soweit, nicht so gross, so souverän, wie ich gerne möchte.»

Manchmal kann ich mir darüber ein Grinsen erlauben, selten auch ein nachsichtiges Lächeln.

Der Raum, jenseits meiner Grenzen und Beschränkungen erscheint mir riesig, endlos. Dort möchte ich sein in dieser Weite.

Ich stehe innerhalb der mir zur Verfügung stehenden, begrenzten Möglichkeiten und ausserhalb des mir zur Verfügung stehenden Potentials.

Habe ich den Zugang zum ausserhalb Stehenden?

Ja, ich fühle, weiss es sogar, dass ich auch das, was mir (noch) nicht zur Verfügung steht, bin. Ich erahne mein Potential und dass es meiner Seele möglich ist, sich weit, über meine Unzulänglichkeiten hinaus auszudehnen.

Dort, jenseits meiner Grenzen erkenne ich ab und zu meinen Doppelgänger in strahlendem Licht.

Jenseits meiner Schranken ist die Ahnung des Möglichen.

Ich bin auch das, was jenseits meiner jetzigen Möglichkeiten ist.

Ich lebe und liebe über alle meine Grenzen hinaus. Dort wo «ich» nicht mehr hinreiche, strahle ich über meine Grenzen hinaus, getragen von der grenzenlosen Liebe.

Manchmal fühle ich in meinem Herzen so etwas wie ein Schwungrad. Dort schwingt Hoffnung und Zuversicht. Lebenswasser. Manchmal wird es herausgeworfen. Es bildet sich ein riesiger Bogen über alle Zäune hinweg in jene Weite der geistigen Welt.

Jetzt bin ich Hier und Dort.

Bei Jürg Reinhard lese ich: «Staut sich das Licht an einem Punkt, so entsteht eine Knospe.» *
Er bezog diesen Satz auf den biologischen Kontext. Ich möchte diese Satz auf den entwicklungspsychologischen Kontext beziehen: Wenn zum Beispiel der Expansionsdrang eines Kindes durch seine Eltern massiv gestoppt wird, so entsteht in ihm auch eine Stauung, ev. eine seelische Wunde, die im Lichte der Barmherzigkeit und des Mitgefühls zur Knospe werden kann und diese wiederum zur duften Blüte.

So kann sich auch das Scheitern in eine solche Blüte verwandeln, wenn wir es annehmen und dort, wo wir eingebrochen sind, symbolisch (oder auch real) eine Kerze entzünden, Strafe also vermeiden und uns in das Licht stellen.

Ich glaube, dass die heilende Tätigkeit des Menschen darin besteht, dass er diese Zweiheit als eine wichtige Aufgabe verstehen kann, nämlich eine Brücke zu bilden über diese beiden Pole: jenen des Scheiterns, des Abgrundes mit jenem der Gnade und der ewigen Liebe. Wer sowohl die Erfahrung der Beschränkung und der Ohnmacht, die auch mit Leiden verbunden ist, aber auch die grenzenlose Freiheit der bedingungslosen Liebe und Ausweitung in sich erlebt hat und diese beiden Gegensätze in sich vereint hat, wie es im Weg vieler spiritueller Meister versinnbildlicht und erfahrbar gemacht wurde, vermenschlicht sich.

Dieser Brückenbau geschieht in Milde.

Ich lebe und liebe über alle meine Grenzen hinaus. Dort wo «ich» nicht mehr hinreiche, strahle ich über meine Grenzen hinaus, getragen von der grenzenlosen Liebe.

*Jürg Reinhard: Das Ende der Physik – Seite 75

 

 

 

2 Gedanken zu „Grenzerfahrungen“

  1. Lieber Werner

    Mich beschäftigt das Thema des Scheiterns. Davor habe ich zuweilen Angst, denn es kann zu Nachteilen im Leben auf der Erde führen. Angst davor, auf dem Scheiter-Haufen zu landen…Mein Scheitern kann auch andere mitreissen und ihnen Schaden zufügen. Scheitern und Schicksal hängen zusammen.

    Ist es nicht so, dass ich in Bezug auf meine Entwicklung immer in einem dreifachen Strom stehe?

    1) Im Grunde bin ich, wenn mein Bewusstsein es zulässt und ich still werde, im im gegenwärtigen Sein. Dort haben Raum und Zeit keinen Einfluss. Diesen Zustand, den Schiller als „ästhetischen Zustand“ bezeichnet, ein Sein, in das wir beim intensiven Spielen eintauchen können, können wir künstlich durch Meditation und Kontemplation herbeiführen; wir müssen ihn aber immer wieder verlassen. Wir sind dann im Paradies.

    2) Heute am weitesten verbreitet ist aber das Vergangenheits-bewusstsein, das konservative Element. Ich prüfe alles was ich tue darauf hin, ob es sich bewährt hat. Dadurch entsteht einerseits Sicherheit im Tun, denn man kann dann weniger Scheitern. Angst wird eingedämmt. Wenn ich dann noch eine Versicherung abschliesse, ein Rechtsakt der Vergangenheit, der Zukunft absichert (oder meint abzusichern) kann ich sogar die Folgen wegsperren: Andere haften dann für mich. Mein Scheitern und die Folgen werden finanziell umgelegt…
    Aber: Mit dem Vergangenheits-Sicherheitsdenken und -handeln entsteht nichts Neues! Ich nehme wahr, dass dieser Zustand, den wir zum Leben gewiss auch brauchen, heute derart stark vertreten wird, dass er lähmt. Wenn wir zum Beispiel ein ganz neues Wirtschaftssystem wollen, eine Gesellschaft, die Liebe und Zuneigung, Dankbarkeit und Verantwortung ernst nimmt, kann es nicht beim Vergangenheitsdenken bleiben. Auch Reformen sind Vergangenheits-bezogen. Ganz neu heisst: Etwas muss zuvor ganz sterben können, losgelassen werden, damit das Neue einziehen kann, damit Raum für Entwickelung entsteht. Es ist ein Leeraum der Angst und Unsicherheit, eine Gralsschale, in das sich Weltendenken senken kann, das ich zulasse. Ich werden zum Ort für Weltgedanken, die sich mir mitteilen: Ich werde gedacht.

    3) Die Zukunft hat ja auch etwas Beängstigendes: Wir kennen sie eben nicht, denn sie entsteht erst dann, wenn wir tätig werden, uns in ein Feld des Unvorhersehbaren wagen. Die Zukunft kommt uns entgegen und wir können aus ihr schöpfen; weil sie aber noch nicht da ist, können wir keinen Begriff von ihr haben. Wir können sie nicht fassen, weil sie ein Werden und damit Leben ist. Mit dem Leben hat unsre Zivilisation ihr Problem. Vergangenheit ist konserviertes Gewordenes, Totes, Mumie. Ich denke an all die Museen, die heute scheinbar so wichtig sind.
    Den Zustand des Werdens nenne ich den künstlerischen Schaffenszustand: Hier müssen Imagination, Inspiration und Intuition wirken können. Rudolf Steiner spricht in einem Mantra von der „Werdepein“. Hier muss Scheitern in Betracht gezogen werden. Jeder schöpferische Prozess der „Werdepein“ trägt die Möglichkeit des Scheiterns in sich. Davor haben wir Menschen aber Angst. Angst ist begrenzend, sie entsteht aus Begrenzungen heraus: Identifikationen und unser Körperm der uns einschliesst, den wir aber brauchen, um Erdenerfahrungen machen zu können.
    Liebe ist die Gegenkraft zur Angst, Liebe kann grenzenlos erfahren werden, wie Du es sehr poetisch und schön schreibst- danke dafür! Ich bin aber noch nicht dort, auch nur auf dem Weg…

    Lieber Gruss
    Joachim

  2. Lieber Werner
    Dieser Text mit Deinen Gedanken hat mich sehr angesprochen: Danke.
    Vor allem : „ Ich bin auch das , was jenseits meiner jetzigen Möglichkeiten liegt“ . ..
    Herzlich, Remy

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