DIE SEELE – Teil 2

Im zweiten Teil dieses Essays gehe ich vorerst (bevor ich auf die Reise zum Mittelpunkt der Seele zu sprechen komme) auf einige begriffliche Klärungen ein, wie «Seele» verstanden werden kann. Noch einmal zitiere ich den grossen hinduistischen Meister Aurobindo:

«Ebenso haben wir in uns eine doppelte psychische Wesenheit:
die Begehren-Seele im Vordergrund, die sich in unseren vitalen Sehnsüchten, unseren Gefühlen, in der ästhetischen Begabung und im mentalen Suchen nach Macht, Wissen und Glück auswirkt, und
eine subliminale psychische Wesenheit, eine reine Macht von Licht, LIEBE, Freude und verfeinerter Essenz des Wesen, die unsere wahre Seele hinter der äusseren Form psychischen Daseins ist, die wir oft mit diesem Namen ehren. Erst wenn ein Widerschein dieser umfassenderen, reineren psychischen Wesenheit an der Aussenseite hervortritt, sagen wir von einem Menschen, er hat eine Seele.»*

Das Subliminale ist ein umfassenderes Bewusstsein als das vordergründige Dasein. Die Seele ist eine wissende Substanz.

In der jüdischen Tradition wird die subliminale Wesenheit Neschamah oder Seelenodem (der Hauch des Lebens) genannt, in der Anthroposophie wird von der Bewusstseins-Seele gesprochen. „Das, was in der Seele als Ewiges aufleuchtet, sei hier Bewusstseinsseele genannt.“ (R. Steiner).

Die individuelle, menschliche Seele ist innig verbunden mit der Seele der Erde und diese wiederum mit der Seele des Universums (Anima mundi), die Ur-Seele, wird auch Purusha oder Atman genannt.: die Welt-Seele

Merkwürdigerweise interessiert sich die westliche Psychologie fast ausschliesslich für die Begehren-Seele (oder Empfindungsseele) und befasst sich nur ausnahmsweise mit der inneren Wesenheit des Menschen, weshalb sich viele Menschen in Therapien auf ihrem spirituellen Weg nicht abgeholt fühlen. Allerdings nehmen jene Therapeuten, die sich für die spirituelle Seite des Menschen interessieren zu.
Noch oft werden tiefe spirituelle Erfahrungen pathologisiert – wie schrecklich!

Die materielle Sichtweise beschränkt sich auch im Hinblick auf die Erde auf die physisch Sicht des Planeten und erlaubt sich nicht nach der Seele der Erde (Anima mundi) zu fragen, wie sie ebenso der Meinung verfallen ist, das Universum sei vorwiegend ein kaltes, schwarzes Gebilde mit schwarzen Löchern, durchzogen von steinigen und gasförmigen kugligen Gebilden. Doch mystisch und seelisch gesehen waltet im Universum des Unendlichen Seligkeit, wirkt höchste kosmische Intelligenz. Die universelle schöpferische Kraft symbolisiert sich im goldenen Fötus. Das äussere, physische Universum ist der Körper Gottes, der seine Glorie und Wesenheit umhüllt und doch physisch ausdrückt.

In diesem Essay beziehe ich mich primär auf die innere Seele, also auf die subliminale psychische Wesenheit des Menschen.

 Die Reise zum Mittelpunkt der Seele

Der folgende «Reisebericht» ist eine Skizze. Ich spreche von einigen Stationen und Phasen auf dem Weg zum Mittelpunkt unserer Seele. Auf dieser Reise gibt es unendlich viele Reise-Varianten, so viele, wie es Menschen gibt. Ich versuche hier Phasen aufzuzeigen, die ich als häufig und wahrscheinlich erlebe.

Die Reise beginnt mit der Erkenntnis, dass wir mehr sind als unser Charakter, weit mehr als die hier auf Erden angelernten Gedanken- und Gefühlsmuster, viel mehr sind, als unsere Identifikationen (z.B. mit unserem Geschlecht, dem Beruf, unserem IQ, unseren emotionalen Auffälligkeiten, etc.). Wir spüren immer deutlicher, dass hinter dem angelernten Bereich eine weitere, umfassende Wirklichkeit anwesend ist. Dies erfahren wir meistens, wenn wir uns in Stille nach innen wenden.
Öffnet sich das Herz weiter kann es zur umwälzenden Erfahrung der Erweckung kommen. Die bisherigen Prägungen werden nun relativiert und mit dem Einfluss weiterer Wirklichkeits-Ebenen dehnt sich das menschliche Bewusstsein aus.

Die bisherigen Trennungslinien werden durchlässig (licht-durchlässig) und das bisher Abgespaltene wird neu als bekannt und vertraut erlebt und es verbindet sich wieder mit dem Kern der Person. «Ich bin auch, was mir entgegenkommt; ich bin nicht nur das Geschaffene, sondern auch der schöpferische, kreative Mensch. Ich bin nicht nur der Körper, sondern auch die Kraft, die ihn erschaffen hat.» So etwa kann der Prozess zu Wort kommen.

Parallel zum beschriebenen Prozess rückt die Arbeit am Schatten ins Blickfeld. Indem sich die Grenzen aufzulösen beginnen, fällt mehr Licht in das Innenleben des Menschen, wodurch sich das, was bisher verdrängt wurde, zum Vorschein kommt und damit greifbar und allmählich verstehbar. Die angehäuften Ängste, Verletzungen und die damit verbundenen Schmerzen zeigen ihre Umrisse, intensivieren sich. Die Angst vor einem endlosen Abgrund tut sich auf und wir spüren, dass nicht nur persönliche Ängste in uns stecken, sondern auch kollektive.
Da ist nun Geduld und Vertrauen gefragt: das Vertrauen nämlich, dass jenseits dieser finsteren Abgründe eine Macht wirkt, die uns liebt, die will, dass wir hier und im Leben sind.

In einer folgenden Phase erkennen wir, dass sich die Dunkelheit auflockert. Schimmer von Licht sind bemerkbar, erst schwach, dann stärker werdend.

Plötzlich treten Einbrüche von starkem Licht auf, manchmal an eine Flut erinnernd. Es ist sehr lebendiges Licht, das zu uns spricht, uns in unserer individuellen Wirklichkeit wahrnimmt, Licht, das uns meint, erkennt und wir sind fassungslos, freudig überrascht: wie kann das nur sein! Bis wir realisieren, dass wir geliebt sind. Bedingungslos mit all unseren Fehlern und Schwächen. Geliebt, angestrahlt, aufgehoben in unendlicher Zärtlichkeit.

Unterdessen sind wir umgestiegen, vom Verstand in das «Fahrzeug» der feinsten Sinne, also der Fein-Sinnigkeit und der Übersinnlichkeit. Hier sind wir zugänglich für die Wahrnehmung der bedingungslosen LIEBE, die uns durch alles, was wir sind, heilend berührt.
Je mehr wir uns verfeinern, desto besser kann sich uns die wahre Kraft, das hohe Bewusstsein und die umfassende Liebe offenbaren.

Nun nimmt unser inneres, hauchfeines Wesen Gestalt an. Diese ist durchlichtet und sehr fein. Wir fühlen uns zart, filigran. Manchmal meinen wir nichts zu sein, feiner als Hauch. Wenn wir dann ausharren, erleben wir diese Feinheit, die bis ins Nichts reicht als eine Realität, eine Wirklichkeit: der Hauch des Lebens, der Seelen-Odem. Es ist die Realität unseres innersten Seelen-Raumes und seine Wirklichkeit, das heisst seine Ausstrahlung. Dieser innerste Seelen-Raum ist individuell und universal/kosmisch.

Auf dem Weg zum Ursprungslicht, unserem Seelen-Zentrum, reinigt uns unsere Seele. Narzisstische Höhenflügel und Fehl-Identifikationen halten dem Licht der Wahrheit nicht stand. Sie trocknen allmählich aus, wahre Demut breitet sich aus. In der mystisch-christlichen Tradition spricht man auch von geistiger oder geistlicher Armut. Die Sufis sprechen von Fana, der Vernichtung des falschen Selbst.
Wir erfahren, dass alles, was an uns wesentlich, essentiell ist, Geschenk ist. Gegebenes.

Anstelle des mentalen Überbaues (unser Grössen-Selbst) breitet sich in unserem Bewusstsein Realität aus, die primäre Wirklichkeit dessen, was wir wahrhaftig sind. Es ist unspektakulär und wunderbar. Wo nichts mehr zu sein scheint, geht die Sonne des Bewusstseins und der ewigen Liebe auf.
Nun sind wir ganz nahe an unserem Wesenskern. Dieser ist der göttliche Funke oder die göttliche Flamme, die niemals erlischt. In sie werden wir einst eingehen.

Im Umkreis des Wesenskern tut sich der Himmel auf, wirkt die Aura Gottes. Da ist reines Strahlen. Wenn wir sterben fallen wir in den Kernbereich (den Wesens-Kern) unserer Seele, der heilig ist. Das Innerste unserer Seele ist vollständig durchgeistigt. Dort ist der Ewige/die Ewige, der Gebärer/die Gebärerin, der Liebende, die Liebende, die uns in LIEBE empfängt.

*Sri Aurobindo: Das göttliche Leben, Band 1, S.252

Der dritte und letzte Teil des Essays über DIE SEELE erscheint voraussichtlich in eine Woche.

2 Gedanken zu „DIE SEELE – Teil 2“

  1. Lieber Werner, danke für Deine so wertvolle Formulierungen! „Meine Seele tanzt“ wenn ich sie lese! Ich bin voll gefordert mit meiner Arbeit – sonst würde ich öfters gerne kommentieren! Der Allmächtige helfe uns heilende Impulse aussenden zu dürfen! Agi

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