Barmherzigkeit

Barmherzigkeit ist eine komplexe, vielschichtige Wirklichkeit. In allen spirituellen Strömungen, die ich kenne, wird mit Nachdruck auf ihre zentrale Kraft hingewiesen. Wie schon der Name sagt (Barm-Herz-igkeit), wird sie dem Herz zugeordnet. Gott und Christus tragen oft den Bei-Namen: der Barmherzige, der All-Erbarmer.

Im Folgenden möchte ich die eminente Bedeutung vom Barmherzigkeit umkreisen, die wunderbare Wirklichkeit, die sie meint, gerade auch für unser heutige Zeit.

1997 machte ich eine drei-monatige Retraite in einem Berghaus in den Alpen. Daraus entstand das Buch «Im Atem der Barmherzigkeit», das innere Thema meines kontemplativen Rückzuges.

Nachdem ich mich mit der Wirklichkeit der Barmherzigkeit angefreundet hatte, schrieb ich in mein Tagebuch:

«Es ist ein Herzensfluss, der aus dem Ursprung kommt. Seine Wesensnatur ist Fliessen, Strömen, filigranartig.
Es ist ein Fliessen, das aus dem Ausatmen kommt: Ein zart-fliessendes, hauch-artiges Ausatmen einer behütenden, einhüllenden, mütterlichen Qualität. Es ist weich-webendes Licht in zarten Farben. Zärtlichkeit. Es schafft Räume der Geborgenheit, Heilung und Erholung. Erbarmen, das aller Heilung zugrunde liegt. Es verströmt, fliesst in alle Richtungen gleichzeitig, empfängt sich aber von oben, von wo es ins Herz fliesst und dort rundum ausfliesst.

Dieses Strömen durchwirkt den Kosmos jederzeit: mitfühlendes, heilendes Erbarmen für die Schöpfung. Wer davon berührt wird, es zulässt, ist nicht mehr einsam, fühlt sich getröstet.
Rachme (aramäisch für Barmherzigkeit) tröstet, fängt auf, bringt die Zellen des Lebens in weiches, warmes, entspanntes Pulsieren. Es ist weiches Licht, welches die Barmherzigkeit charakterisiert. Die Farben sind oft in Pastell: weiss-rosa, gold-durchwoben, manchmal ein helles Blau-Grün.

Rachme bildet die Grundlage, die «fliessenden Räume», welche die gegenwärtigen Prozesse ermöglichen, die jetzt nötig sind.
Sie ermöglichen, die jetzt stimmigen Prozesse, die der inneren Notwendigkeit des Momentes entsprechen.
Barmherzigkeit ist die Hebamme der Zeit-räumlichen Welt und verbindet diese mit der Welt in Gott, mit Seinem Heiligen Geiste.

Barmherzigkeit ist überall und immer. In ihr spricht die göttliche Stimme: ICH BIN DA.
Wer Barmherzigkeit und Erbarmen empfindet, atmet auf: Gott ist da – es ist gut.
Rachme ist die weiche Kraft des Südens, die Vertrauen bildet – Wachstumskraft.

Rachme ist die sich offenbarende Liebeskraft Gottes, Sein ICH-BIN-IMMER-DA. Sie erschüttert, schmilzt, weicht auf.
Durch alle Mauern der Welt: Sein heilendes, tröstendes Licht, welches selbst das Allerdunkelste nicht meidet, den Opfern und Tätern sich anbietet als sich selbst verschenkende Liebe, die rückhaltlos, bedingungslos alles – sich selbst – gibt und nichts zurückbehält, da sie alles ist und sich ständig erfüllt in unbegreiflicher Liebe.

Christus ist Gottes Erbarmen, die ins Dunkle herabsteigende Kraft; das Licht in der Finsternis, das nie vergeht.

Ich habe erfahren, dass das Herzensgebet (siehe Blog vom 5. Jan. 19: Atem, Teil 2 *) , in dem die Formel «Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner (unser)» solange gesprochen oder gedacht wird, bis es sich selbsttätig in unser Herz eingewobene hat und somit gleichsam sich immerzu selbst betet … die Kraft hat, uns über unsere Ego-Grenzen hinauszuführen in die kosmische Präsenz, die sich jenseits der Angst öffnet als segensreiche und heilende Gegenwart.

Das Universum ist durchwirkt und durchströmt von Barmherzigkeit, die sich auch in uns mikrokosmischen Menschenwesen widerspiegelt. Allerdings will die Barmherzigkeit in uns geweckt werden und das Herzensgebet ist eine wunderbar mystische Methode dafür. Dieses hat die Kraft, uns zu transformieren. Es ist die Kraft der göttlichen Mutter, die wir anrufen, wenn wir Barmherzigkeit, rachme oder ir-rahman sagen.

Sowohl rachme (aramäisch), wie auch Rachman (oder Rahman), arabisch, geht auf die Wort-Wurzel zurück, die Mutterschoss oder Gebärmutter bezeichnet. Ich glaube, dass das hebräische Wort für Barmherzigkeit auch auf den Mutterschoss Bezug nimmt.

Eine sehr geschätzte Leserin meines Blogs erwähnte folgenden Satz meines letzten Blog-Beitrag «Der erwachte Mensch ist ein gebärendes Wesen» und schrieb dazu:

«Das ist genau, was mit Barmherzigkeit gemeint ist!
Im Althochdeutsch bedeutet Barm: der Geborene. Barmen ist auch austragen, gebären, eng verbunden mit Mutterschoss.
Barmherzigkeit haben wir mit «mitfühlen» zu einem Gefühl heruntertransformiert – ein Jammer! Gottes Barmherzigkeit ist: Der Mutterschoss der Einheit trägt uns aus im Werden des Seins.»

Natürlich beinhaltet Barmherzigkeit auch den wichtigen Aspekt des Mitgefühls, geht aber weit darüber hinaus.

Es ist erstaunlich, aber doch nicht verwunderlich, dass offenbar in vielen Sprachen das Wort für Barmherzigkeit oder Erbarmen eine Verbindung zu Geburt, Schwangerschaft und Mutter hat, woran wir erkennen können, dass tiefes Wissen in die Sprache eingegangen ist.

Barmherzigkeit ist eine göttliche Kraft und eine sehr hohe Qualität, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigt und nicht alleine durch Erziehung erlangt werden kann. Sie ist eine Gabe des Heiligen Geistes, ein Geschenk der göttlichen Mutter, die uns mit dieser Gabe auch den Weg in die Herzens-Geburt weist.
Die Wirklichkeit der Barmherzigkeit ist die Voraussetzung für jegliche heilende Tat. Sie schafft uns den Raum für unserer Ganzwerdung – individuell und kollektiv für unseren Menschheits-Leib.

Ausserdem bringt uns das Ereignis der Barmherzigkeit selbst in die zweite Geburt, die Geburt unseres wahren, lichten, göttlichen Wesens, das in uns hervorgerufen werden möchte – eben mit der Hilfe der Barmherzigkeit. Sie zu empfangen ist wohl die schönste Aufgabe, die uns Menschen gegeben ist. Aber diesen Weg müssen wir nicht alleine machen, da viele Wesenheit uns ihre Hilfe anbieten, wie die Bodhisvattas des Mitgefühls. Ich denke dabei an Avalokiteshvara oder Kanzeon, erleuchtete Wesen, die einzig deswegen auf Erden sind, um Hilfe, Trost und Mitgefühl den Menschen darzureichen, die bereit sind, diese Gaben zu empfangen. In den anderen Religionen haben sie andere Namen, in der christlichen Spiritualität ist es Jesus Christus, der als Inbegriff der Barmherzigkeit gilt. Er wird um Hilfe gebeten mit: Christe eleyson (Christus erbarme dich).

Barmherzigkeit kann man sich gar nicht als hoch und wunderbar genug vorstellen.
Der (gewandelte) Atem der Barmherzigkeit führt uns vielleicht an das Ufer des Meeres der Barmherzigkeit und Gnade, wo es uns gewährt werden kann, dass wir Heiligkeit atmen können, die heilige Macht des Lebens und des Menschseins. Es ist auch die liebende und mütterliche Macht, die uns die Geburt zum wahren Menschsein verleiht.

Beten wir in Hingabe aus dem Herzen und erleben wir (ich schrieb im letzten Blog darüber) wie Atem, Liebe und Licht eins werden, so kann es geschehen, dass wir aus dem «kleinen Atem», der unser egozentrisches Leben umkreist, hinaus gehoben werden in den grossen Atem der Barmherzigkeit, der von kosmischer Dimension ist und uns in Verbindung bringt mit dem göttlichen Ursprung aus dem wir kommen. Da werden wir aus der Barmherzigkeit trinken können, unseren wahren Durst stillen.

*Siehe unter «ältere Beiträg» unterhalb dem Schlagwort-Verzeichnis. Jan. 2019 anklicken und nach unten scrollen.

Beitrags-Bild: Rosenblatt in Gold geädert von W.B. 

3 Gedanken zu „Barmherzigkeit“

  1. Lieber Werner,
    vielen, vielen Dank! Wie sehr wünsche ich mir, dass dieses Bewusstsein die Argumentationen und Entscheidungen der Menschen prägt, die über die Aufnahme von verzweifelten Menschen in den Lagern, und anden Grenzen Europas entscheiden!
    Herzliche Grüsse, Christoph

  2. Lukas Bärfuss schreibt in einem Essay: Das Gefühl der Stunde sei die Wut, ein sehr politisches Gefühl. Wut könne vieles, aber eines nicht, nämlich denken. Er schlussfolgert, wenn uns das Denken erst zu Menschen macht, dann liegt an unserem Anfang nicht die Wut. Am Anfang des menschlichen Bewusstseins ist eine andere Empfindung. Die Empfindung, die zu dieser Jahreszeit, dem Herbst, gehört. Die Empfindung für den Verlust, das Gefühl, etwas zu verlieren, die Angst etwas Kostbares nicht in den Händen behalten zu können. Es ist das Gefühl für die Zerbrechlichkeit alles Lebendigen. Das Gefühl für die Zeit, für die Vergänglichkeit, die Einsicht, wie kostbar jeder Augenblick ist, einerlei, ob er Freude oder Leid bringt. Er ist kostbar, weil er einzigartig ist und niemals wiederkommt. Er entsteht, existiert und ist mit dem nächsten Atemzug schon wieder vergangen.
    Und da diese Augenblicke endlich und beschränkt sind, müsste sich da nicht jeder Mensch beständig fragen,was er mit dieser knappen Zeit anfangen will? Was wichtig ist und wofür sich Kraft und Liebe lohnen? Und folgt aus dieser Frage nicht zwingend der nächste Gedanke, was mich nämlich hindert, aus dieser Erkenntnis heraus mein Leben zu leben, zu gestalten, zu teilen?
    Und deshalb steht am Anfang des Denkens und damit am Anfang der Philosophie, der Politik, am Anfang der Kunst und am Anfang der Religion ganz gewiss nicht die Wut.

    Am Anfang der menschlichen Kultur steht die Trauer.

    Das Auge ist überall, aber Tränen sieht man auf Facebook und Instagram selten. Tränen verlangen lebendige Gegenwart.
    Die wirkliche Trauer findet kaum Darstellung, ist aus der öffentlichen Sphäre ausgeschlossen, so sehr, dass es mittlerweile fast abwegig erscheint, sie zum Ausgangspunkt einer Veränderung zu machen.

    Haben wir Zeitgenossen nicht allen Grund zur Trauer? Angesichts der grossen Unmenschlichkeit auf diesem Planeten? Wohin wollen wir?

    Wäre es deshalb nicht klug, der Jahreszeit zu folgen? Warum nicht einmal die Tränen in die Strassen tragen? Müssen wir, damit wir statt Wut wieder einmal Freude empfinden könnten, nicht zuerst den Mut zur Trauer haben?
    Wir könnten in diesem Herbst für einmal unsere Tränen zur Politik erheben, es wäre vielleicht leise, aber es wäre eine Politik der Sorgfalt, der Rücksicht und des Anstands.

    Und wären wir damit nicht offener für das Bewusstsein der Barmherzigkeit, jener wunderbaren Wirklichkeit und grossen mütterlichen Kraft, wie Du sie so wunderbar beschreibst?

    Barmherzigkeit bildet die Grundlage, die „fliessenden Räume, welche die gegenwärtigen Prozesse ermöglichen, die jetzt nötig sind.

    Herzliche Grüsse
    Doris

  3. Lieber Werner, diesses Thema verliess mich seit meiner Erfahrung vor ca. 35Jahren hinsichtlich der Barmherzigkeit Gottes nie mehr los Je älter ich werde, umso mehr brauche ich sie für mich und für mein Beten für das Leid in dieser Welt. Ja, wie du sagst.. Erbarmen, das aller Heilung zugrunde liegt. Auch gefällt mir sehr die Idee der Hebamme und was sie verbindet..Besser könnte man es nicht sagen.. Barmherzigkeit.. ist selbst verschenkende Liebe, die sich selbst gibt.. da sie alles ist. Auch ich erlebte die Barmherzigkeits Energie immer wieder in den selben Farben wie du- sanft, zärtlich, weich, feine Freude und Kraft.Stelle mir vor, da gibt es Tausende von Menschen, die rufen rund um den Erdball unablässig : Herr, erbarme dich und gerne gehöre ich dazu. Dank dir lieber Werner für dein geistiges Juwel. Maja.

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