Sprachlos

Wenn mich etwas berührt, das mich überrascht oder gar erschreckt, etwa Neues, das ich noch nicht kenne, so bin ich erst einmal sprachlos, weil ich es noch nicht formulieren kann, also nicht in Form bringen kann.
Es ist formlos gegenwärtig, als einen Eindruck, eine Stimmung, ein Vor-Gefühl, eine Ahnung, noch kein klares Gefühl, deshalb nicht zu kategorisieren, weder dies noch das und doch klar anwesend. Dieses Etwas: es sucht nach seiner Form, zögert aber, sich festzulegen, einen Namen anzugeben. Es ist also namenlos, noch namenlos, aber allmählich nach einer Form und einem Namen ringend. Doch es (ja, es ist ein es) lässt sich Zeit. Es ist die Zeit des Reifens und der Klärung, der Identitätsfindung.

Sprachlos machen mich Ereignisse, die ich so niemals erwartet oder gedacht hätte: Wie kann es nur sein, dass…

Sprachlos machen mich Gefühle und Empfindungen, die mir auf diese Weise noch nicht begegnet sind und für die ich keine Worte finde, die mir zutreffend erscheinen.

Wenn ich genau hinsehe, kann ich nach einiger gewissen Weile unterscheiden, ob der sich regende Impuls etwas ist, dass mich erschreckt, angreift, verletzt, oder ob ich mit einer guten Macht in Berührung komme, die mir etwas aufzeigen will, das mich etwas erkennen lassen will, das ich benötige.

In Meditation versinke ich manchmal in eine ursächliche Stille, jenseits der schöpferischen Vielfalt, wo nichts ist, aber alles angelegt ist, was einmal wird. Reine Stille, Schweigen in Ehrfurcht, Heiligkeit.

*

Ich weiss, dass es nicht gut ist, mich dem Neuen, das sich ankündigt, gleich zu bemächtigen, es zu ergreifen und festzuhalten, bevor ich ihm, dem Neuen, die Zeit zugestanden habe, sich zu zeigen und in die Erscheinung zu gelangen.

Gehe ich mit etwas schwanger, dann drückt sich damit mein Einverständnis aus, geduldig dem Werde-Vorgang, beziehungsweise der Vision, Raum und Zeit zu gewähren, damit es sich ausformen und ausformulieren kann. Erste Laute, Regungen, die ich ganz innen wahrnehmen, bedürften noch des Schutzes, der schweigenden Umhüllung, solange, bis der Moment gekommen ist, das Neue zu offenbaren. Vor der Offenlegung bin ich im intimen Raum des Werdens und des Wachsens, des Lauschens und der Anteilnahme mit dem, was erscheinen möchte.

*

Die jetzigen Corona-Zeit macht mich immer wieder sprachlos. Ich verstehe die Krise nur stückwerkhaft, dazwischen klaffen Lücken des Nicht-Verstehens und der Sprachlosigkeit.
Ich ahne unterschwellige Wellen einer sprachlosen Kommunikation, von Erkenntnissen, die jetzt (noch) nicht geäussert werden können.

Wer hütet diese stimm- und wortlosen Stimmen?
Wer lauscht in den langen Nächten dem geheimen Vermächtnis.
Wer hütet die Flammen der nächtlichen, lodernden Feuer?
Wer stellt behutsam die lautlosen Fragen, die noch keine Worte gefunden haben?
Wer öffnet sein Ohr dem Kommenden, das sich annähert, sich aber noch nicht artikuliert?

Die Schwangere, in der sich Erbarmen regt. Sie trägt das werdende Kind: behutsam, achtsam.

Ich glaube daran, oder vielmehr ich ahne, dass heilsame Prozesse und Gestaltungskräfte jetzt oder in naher Zeit «geboren» werden sollen. Diese Impulse suchen nun von Barmherzigkeit erfüllte Menschen, die sich bereit fühlen Hebammen-Dienste zu leisten.

Aus meinem Blog-Beitrag Barmherzigkeit vom 19. Sept. 2020 zitiere ich hier zwei Stellen, die zeigen, wie wichtig die Kraft der Barmherzigkeit ist, wenn wir uns dafür einsetzen, dass das Menschenbild der Liebe (vergleiche letzter Blog) hier auf Erden an Kraft und Ausdehnung gewinnt:

– „Rachme (aramäisch für Barmherzigkeit) bildet die Grundlage, die «fliessenden Räume», welche die gegenwärtigen Prozesse ermöglichen, die jetzt nötig sind.
Sie ermöglichen, die jetzt stimmigen Prozesse, die der inneren Notwendigkeit des Momentes entsprechen.
Barmherzigkeit ist die Hebamme der zeit-räumlichen Welt und verbindet diese mit der Welt in Gott, mit Seinem Heiligen Geiste.“

-„Im Althochdeutsch bedeutet Barm: der Geborene. Barmen ist auch austragen, gebären, eng verbunden mit Mutterschoss.“

Barmherzigkeit können wir verstehen als eine mitfühlende, gebärende, schöpferische Kraft, die auf Erden, wie auch im Kosmos stets wirksam ist. Sie begleitet und unterstützt werdendes Leben.

Die mütterliche Kraft der Barmherzigkeit, zusammen mit Geduld, hilft uns, dem Wachstumsprozess jene Aufmerksamkeit zu schenken, damit das in Stille Keimende allmählich die richtige Form und die nötige Kraft finden kann.
Das Keimende manifestiert sich zuerst als sanfte Energiewellen, die noch auf der Suche sind nach ihrer Form, nach ihrem Wort, ihrer Sprache.

Wer hütet diese stimm- und wortlosen Stimmen?

3 Gedanken zu „Sprachlos“

  1. Lieber Werner

    Ich danke dir von Herzen für deine wunderbare Sprache, deine Möglichkeit und Meisterschaft dem Nicht-sagbaren in fühlenden Worten Raum zu schenken, so dass wir uns doch verstehen können. Barmherzigkeit – die Geburt aus dem Herzen – was für ein wunderbarer Raum der göttlichen Stille und Schöpfung.

    In Liebe und Dankbarkeit
    Wolfgang

  2. Lieber Herr Binder,
    ich kann mich dem Vorschreiber nur anschließen.
    Es ist von großem Geschenk, Worte für (noch-) nicht-Form-Gewordenes zu finden, wie es Ihnen möglich ist. Das erleichtert das eigene, innere Suchen und schafft Resonanz, Verbundenheit, Gemeinschaft (Passend zu Ihrem aktuellen Blog liest sich der Text von Claus Eurich, Blog 09. April „Stille Felder der Verbundenheit“. Die Wirkkraft dieser Felder ist hier spürbar.)
    Ähnlich, wie Sie es beschreiben, so mutet auch mich das Phänomen Corona an. Auch in mir sucht etwas nach „Noch nicht in Worte Fassbarem“. Da ist ein Spüren, eher noch ein Ahnen von etwas, was sich – vielleicht mit der Zeit – offenbaren möchte. Hier haben mich Ihre Worte sehr erreicht, es scheint ein Ringen zu geben oder mit Ihren Worten ausgedrückt „ein schwanger gehen“ mit noch nicht Verstehbarem.
    Ein großer Dank für Ihre Worte, für diese Resonanz.

    Petra Reiners

  3. Lieber Werner

    Vielleicht kennst Du dieses Gedicht von Christian Morgenstern:

    Worte sind wie Rettungsringe
    Die dem Leben dienen
    Auf den tiefern Grund der Dinge
    Kommst du schwer mit ihnen.

    Im Grunde nehme ich es immer mehr so wahr, dass unsere Worte, unsere Sprache der tieferen Realität (von allem!) nicht gerecht wird.
    Worten liegen Begriffe zugrunde, in die ich Wirklichkeiten presse und sie damit zerstöre. Jedem beliebigen Ding, das ich wahrnehme, liegen tiefere Realitäten zu Grunde, die allesamt wesenhaft sind, selbst den Staubknäueln in der Ecke. Durch Dinge, die wir schaffen, schaffen wir zugleich neue Elementarwesen, die fortan wirken. Wenn ich sehe, was allein schon die Technik schafft, kann ich allmählich ahnen, welche Dämonen wir in die Welt geboren haben und immer noch gebären. Würden Menschen spüren, was sie bewirken, auch in ihrem Schicksal, müsste sich die Welt sofort ändern!

    Das macht mich sprachlos. Ich kenne leider nur wenige Menschen, zu denen Du zählst, mit denen da ein Austausch überhaupt möglich ist.

    Mit zunehmendem Alter begegne ich vielen Einflüssen, die vor allem aus dem sozialen Kontext kommen, eher mit Schweigen, weil ich weiss, dass gerade bei Verletzungen Schicksal im Spiel ist, oft weiss ich es genau: Ich habe mit der betreffenden Person ein Thema.

    Jemand in mir sagt es mir, das ist deutlich: Nicht ich bin es, der sich das sagt, es wird mir zugeraunt. Wenn ich entwerfe oder komponiere habe ich manchmal das Gefühl, dass ich getragen bin. Ich verstehe oft nicht, wie das, was entstanden ist durch mich geworden sein soll. Mein kleines Ich kann es allein nicht bewirkt haben, wenngleich es sich Techniken aneignen musste, um „gebähren zu können“. Manchmal wird mein Arm geführt. Ich schreibe eine Note, ein Thema, eine Akkord usw. und ein Musikstück wurde geboren. Gerade bei Musik und Kunst ist es so, dass der richtige Zeitpunkt abgewartet werden muss. Dann aber muss man tätig werden, tätig, in dem ich zulasse, dass“ es in mir denkt“ (der heilige Geist), sie, „die Weltseele (Sophia) durch mich fühlt“ und „er (das Gott-Vaterprinzip) durch mich hindurch Wille entfaltet“.

    Wir lernen mit den Geistern der Welt neu zu kommunizieren: Indem wir in uns und die Welt hinein hören und tiefer sehen. Die Sinne als Tor zum Übersinnlichen, in dem wir ja immer drinnen leben, auch wenn wir wach schlafen.

    Herzlich
    Joachim

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