Ein Klagelied
Atmendes Leben. Darüber liegt Schwärze,
eine Luft-undurchdringliche Decke aus Angst, erstickender Kontrolle,
strangulierendem Gehorsam und seelischer Austrocknung.
Damit will „die Macht“ uns schützen. Uns, die Verstummten.
Vermummten,
gebunden an sie.
Die Kinder, die das Weinen verlernt haben.
ANGST.
Darunter, verborgen, unserem Seelenkörper nicht mehr zugänglich:
das pulsierende, das atmende Leben.
Der heilige Atem, der in allem schwingt.
Und wieder, nach Zeiten der Stille lüftet sich die schwarze Decke für Sekunden vielleicht – oder länger: und wir spüren,
dass alles, wirklich alles durchatmet ist.
Gefesselt, bandagiert ist die Kreatur in abgestumpfter Bewegung,
auf das Lächeln wartend und auf die kühlende Hand, die tröstet.
Die Kinder, vertrieben.
Oh.
Die Decke schützt nicht. Unter ihr beginnendes Ersticken.
Nadelstiche für den Frieden – für die Gesundheit?
Nein.
Unterwerfung oder Hingabe an das Leben?
Wut gegen das langsame Ersticken.
Die Klage richtet sich an das Erd-Innere,
die Bitte an die Ahnen, die ihre warmen Hände nach uns ausstrecken.
Ich singe ein Klagelied aus Trauer und Hoffnung geflochten.
Die Kriege, die das letzte Jahrhundert zeichneten, die Blutspuren noch gegenwärtig.
Traumatisierte Schwestern und Brüder: singt mit, stimmt ein in das wehmütige Klagelied, das uns vielleicht die Luft gibt, die wir jetzt so dringend benötigen.
Oh.
Die verlorenen Kinder in den Trümmerhaufen. Seht ihr sie? Sind wir sie?
Der Schmerz ruft uns.
Und die Sehnsucht.
Mit Resignation und Folgsamkeit wehren wir uns dagegen,
uns wahrzunehmen und wir ziehen die schwarze Decke noch fester über uns.
Wir buchstabieren eine schreckliche Geschichte – mechanisch.
Buchstaben-Schwärze.
Schwärze.
Es ist eine Geschichte über Angst und Gehorsam.
Ob uns der heilige, pulsierende Atem unter uns noch zu heilen vermag?
Dies ist ein Klagelied über die Schatten von Corona,
deren Krone zu Boden gefallen ist, wo Schutt liegt.
Die Winde hoch über uns, seit je.
Der Jet-Stream singt.
Lieber Werner
Zuerst musste ich eine ganze Weile das Gesicht des Kindes, das weint, ja schreit, betrachten … in Nahaufname.
Es erinnerte mich an das Foto mit dem Kind, das vor Jahren um die Welt ging. Es zeigte ein Kind, das erschütternd weint, verzweifelt und nackt mitten auf der Strasse buchstäblich vor den Schrecken des Krieges davonrennt … auf uns zurennt?
Ein Kind, das aus irgendeinem Grund, einem Schmerz weint.
Weinen tut gut. Weinen hilft dem Atmen. Weinen erhält Leben.
Und dann das Klagelied!
Es scheint, es geht Dir darum, die Sprache zu belauschen und mit ihren Mitteln etwas heraufzubeschwören, das Du uns zeigen willst und das uns berührt.
Deine Sprache in diesem Beitrag erinnert mich etwas an Rainer Maria Rilkes Lyrik: Mit wenig Worten und Metaphern sagst Du Wesentliches. Es erinnert mich auch an die Aussage von Maja im Kommentar zum Beitrag „Wesen“: Das Erfahren des „Geistigen/ Heiligen“ mit unseren Sinnen. Viele Deiner Worte sind immer auch sinnlich. Ekstase der Wörter.
Ich singe ein Klagelied aus Trauer und Hoffnung geflochten.
Die Hoffnung ist bei Dir nie verloren.
Du suchst -in aller Betrübnis- das Heilige.
Nicht nur der Schmerz ruft uns, auch die Sehnsucht.
Sehnsucht ist die einzige Sucht (meines Wissens), die noch von Lebendigkeit zeugt.
Du machst die Sinnlichkeit und Verletzlichkeit der Welt erfahrbar.
Herzlich und dankbar Doris
Danke, lieber Werner.
Ja, es braucht dieses tiefe Hinsehen und Fühlen.
Kinder, die selbst das Weinen verlernt haben, spüren nichts, werden taub. Es ist ihnen nicht anzulasten. Und manchmal kann das Heile in uns, doch noch seinen Weg finden …
Es ist tröstlich, wenn andere Menschen ähnlich empfinden im Sehen, wo es eigentlich keinen Trost mehr gibt. Nur die göttliche Gnade gibt dann Geborgenheit und vermag alles zu tragen. Wohl dem, der sie erfahren darf.
Gnadenvolle Herzensgrüße, Mona