Feuer

Feuer ist zurzeit ein Thema: Vulkan-Ausbrüche scheinen sich zu häufen. Gravierender aber sind die Waldbrände im Gebiet des Amazonas, in Brasilien, Bolivien, Alaskas und Indonesien. Feuer durch Brandstiftung mit dem Zweck Landwirtschaftsflächen zu gewinnen für Monokulturen.
Die Lunge der Erde, das Amazonas-Gebiet steht in Flammen!
In Russland explodierte ein Raketen-Triebwerk mit Atomenergie. – Feuer auf einem Tauchboot.
Die Überhitzung der Wirtschaft führt zur Überhitzung des Klimas.
Feuer also in verschiedenen destruktiven Gestalten.
Im Aussen, in der Welt, widerspiegelt sich die innere, kollektive Verfassung unseres Bewusstseins.
Wenn Feuer am Horizont aufflammt scheint mir der Moment gekommen zu sein, zu fragen: Wie steht es zur Zeit um die Beziehung des Menschen zum Feuer, insbesondere aber wie ist sein Verhältnis zum inneren Feuer? Lesen wir also im Aussen die Zeichen, die etwas über uns selbst aussagen.

Feuer begegnet uns vor allem in der Sexualität, im leidenschaftlichen Tun und in der Begeisterung, die uns vorwärts und über unsere Grenzen treibt, in der Kraft des Wandels, der Transformation. Feuer hat aber auch eine reinigende, läuternde Wirkung.

Das Feuer ist eine sehr starke Kraft: Es sucht unmittelbaren Ausdruck, Freiheit; es brennt, wo es will, da, wo das Leben entflammt, zwei Menschen oder zwei Qualitäten sich ergänzend (reibend) treffen. Insbesondere in der Liebe. Verliebte tanzen auf Feuerwellen, ohne zu verbrennen. Entreisst sich hingegen das Feuer von der Anbindung an die Liebe (der Zärtlichkeit, dem Respekt vor dem Leben), führt es zur Selbst-Verbrennung, verbrennt der Feurige, der sich von der göttlichen Ordnung abgetrennt hat.

Hier ist ein Zwischenhalt nötig, um zu klären, was ich mit der göttlichen Ordnung meine:
Diese Ordnung ist Ausdruck der LIEBE, der Weisheit und der Wahrheit. Sie ist beweglich, fliesend, weich; sie bezieht die sich verändernden Situationen stets mit ein, ist also niemals starr und zwanghaft. In jedem Moment werden die sich verändernden Bedingungen und Situationen miteinbezogen, integriert. Das Feuer wirkte also innerhalb dieser hohen weisen Ordnung hilfreich, andernfalls wird es gefährlich und wirkt im Menschen und auf und auf der Erde selbst-destruktiv.

Das Feuer brennt also zwischen Freiheit/Spontaneität und Bindung/Verantwortung. Dies gilt ganz besonders auch für die Sexualität.

Die grossen religiösen Systeme glaubten die Kraft des Feuers und damit auch der Sexualität durch Zwänge und rigide Regeln bändigen zu können. Sie haben diesbezüglich versagt. Sie haben es nicht verstanden mit diesem Paradox (Freiheit und Einbindung in eine höhere Ordnung) umzugehen. Und so lange dies so ist, werden sie sich nicht weiterentwickeln können.
Prometheus stahl das Feuer, Zeus beanspruchte die Hoheit über das Feuer. Das vom Ganzen abgetrennte (das gestohlene) Feuer ist gefährlich und zerstörerisch, während das ins Leben eingebettete Feuer wärmt. Es ist der Motor jeglicher Kreativität.
Brandstiftungen sind die Folge von Macht-Zusammenballungen anmassender Herrschaft über das Feuer. Das ist Frevel.
Trump, der US-Präsident, sagte, dass er Grönland kaufen wolle. Dort will er Wälder roden (verbrennen), um Bodenschätze zu gewinnen. Das ist Anmassung, Herrschaft.

Im gekränkten, beleidigten Stolz, im eifersüchtigen und neidischen Ego, wie wir es bei vielen Herrschern erkennen, ist Feuer-Kraft gefangen: mottendes, zersetzendes und zerstörendes, gestautes Feuer, das lange im Unsichtbaren wirkt, bis es explodiert.
Nicht nur bei Herrschern: bei allen Menschen, die ihr Feuer, ihre Leidenschaft und ihre Träume und Visionen nicht lebens-dienlich leben, es unter Druck halten, besteht die Gefahr, das ihr Leben erodiert, sich die Impulse, auch die aggressiven, sich gegen sie selbst richten: zerstörend oder lähmend-depressiv.

Noch einmal: Das Feuer – und ich denke jetzt vor allem an das innere Feuer – sollte nicht durch Zwang und Konventionen gebändigt werden, sondern durch Weisheit und Mitgefühl, wodurch seine Kraft und Leidenschaftlichkeit leben kann: in Freiheit und Verantwortung.
Es ist nötig, dass das Feuer behütet wird. Es braucht die Hüter*innen des Feuers.

Dem aus dem Wissen um die Ganzheit entrissene und somit gefährliche Feuer scheint uns bedrohlich näher zu kommen.

***

Das heilende Bild: Menschen, Frauen und Männer aus allen Nationen sitzen um ein grosses Feuer. Die Suppe, die sie über dem Feuer gekocht haben, zirkuliert jetzt in einer grossen Kalebasse. Sie kreist um das Feuer. Die Anwesenden teilen ihre Herzensanliegen, ihre Visionen miteinander. Der Rede-Stab wandert. Der Abend bricht an und damit die Kühle. Das Feuer in ihrer Mitte wärmt.
Alles kreist um das Feuer, wie die Erde um die Sonne.

Im Spital

Noch bin ich leicht benommen von der Schicksalswelle in meine Wohnung zurückgeschwemmt worden, wo ich meinen eigenen Atem wieder finde, also im Vertrauten wieder angekommen bin. Ich habe das Spital in seinem kühlen, harten Weiss zurückgelassen, in dem ich vier Tage in einem lauten, unruhigen Dreier-Zimmer lag, gefesselt von Infusions-Leitungen und einem Katheter.
Die Spitalwelt ist mir fremd: seine strikte Hierarchie, die entseelte, nur noch höfliche aber kaum mehr herzliche Pflege, die vielen technischen Abläufe… doch einmal, eines Morgens, trat eine junge Pflegerin wie ein Lichtstrahl in unser grosses Dreibett-Zimmer und sagte, dass sie hier die Nachttischen abstauben und reinigen werde. Sie tat dies mit so viel Achtsamkeit und liebevoller Präsenz, ja, ich möchte schon von Hingebe reden, dass es spürbar heller im Zimmer wurde. Sie war in Ausbildung im ersten Lehrjahr, aber schon eine ausgereifte Pflegerin mit heilender Ausstrahlung.
Meinem jungen Bett-Nachbarn verweigerten die Angestellten eine wirkungsvolle Schmerz-Therapie über zwei Tage hinweg. Oder sie getrauten sich nicht, das unwirksame gegen ein wirksames Schmerzmittel zu ersetzen. Es war kaum anzusehen, wie der Mann litt. Mit Hilfe seiner Verwandten, die grossem Druck machten, traf dann der Chefarzt ein, verschrieb Morphium und mein Nachbar war in wenigen Minuten schmerzfrei und konnte wieder schlafen. So viel zu den Auswirkungen einer straffen steilen Hierarchie.

Nun bin ich also wieder zu Hause, benommen und dabei, mich wieder in meiner eigenen Haut zurecht zu finden und meiner Müdigkeit, die mit Verspätung nun Einzug hält, nachzugeben.

Im Folgenden schildere ich meine erste Nacht im Spital, kurz nach meiner fünf-stündigen Blasenstein-Entfernung:

Um 20.30 Uhr kam ich im Wach-Saal wieder zu mir und fühlte mich gleich ganz wach und klar, was die Anwesenden erstaunte. Mich auch. 15.2.45 – natürlich wusste ich mein Geburts-Datum, ohne zu studieren. Kurz vor dem Ende des 2. Weltkrieges. Trage ich noch Spuren des Krieges in mir? Vermutlich schon.

Unmittelbar vor der Operation sagte mir die mich operierende Ärztin, dass es gut sei, einen eigenen Traum in die Narkose und die nachfolgende Operation mitzunehmen. Ich hatte meinen Traum, nahm ihn mit. Wie schön, wie wahr und klug, doch ihr Hinweis war.

Eine andere Ärztin hatte mir die Infusion zu stecken. Kurz vor dem Einstich fordert sie mich auf einzuatmen, was ich tat. Während ich einatmete, stach sie. Noch nie erlebte ich den Einstich einer Infusion beinahe schmerzlos.
Ich sage mir: Wenn etwas eintreten soll, atme ich ein, gebe Zugang, wenn etwas austreten soll, atme ich aus, akzeptiere und fordere damit den Auslass. So einfach ist das und so hilfreich.

Nach den beiden Erfahrungen/Einsichten der beiden klugen Frauen, wurde ich in die Operationsaal gefahren und auf den OP-Tisch gebracht. Im Raum herrschte eine aufgeräumte, ja heitere Stimmung. Ganz kurz fand ich das Lachen befremdlich, danach schätzt ich es, denn es schmälerte den freundlichen Einsatz der Mitarbeitenden in keiner Weise – im Gegenteil.

In der beschriebenen Klarheit – die Auswirkung meines Traumes – wurde ich in mein Krankenzimmer gekarrt. Nach einer kleinen Mahlzeit, inzwischen war es dunkel geworden, kam eine sanfte, tiefe Müdigkeit zu mir und legte sich über mich wie eine leichte, warme Decke und ich schlief ein – und blieb dabei völlig wach und präsent. Ein Klar-Traum.
Ich hörte das Plätschern des Regens draussen, das Schnarchen meines Nachbars und gleichzeitig erlebte ich und wusste, dass ich schlief und träumte. Ich folgte allen meinen Träumen und beobachtete sie und realisierte gleichzeitig alles, was in meinem Zimmer und in meinem Körper vor sich ging. Das ging vielleicht eine bis zwei Stunden so. Ich erlebte den Zustand als sehr friedvoll. Einer der Träume hatte die Qualität einer Vision: Ein weiser kraftvoller Mann erschien und sagte mir, was ich in meiner kommenden Lebensphase zu beachten habe. – Es war eine starke, kurze und eindringliche Begegnung.

Danach folgte ein Wechsel von Schlummern und Nachdenken. Diese hatte die Qualität von Klar-Werden.

Auch Krankheit – Gesundheit ist in den letzten drei Jahren für mich zu einem zerbrechlichen Gut geworden – trägt sowohl den Aspekt von Klar-Werden, wie auch von Mensch-Werdung in sich. Krankheit ist für mich zu einem Vehikel der Bewusstwerdung geworden.

Als es dämmerte, freute ich mich auf das Frühstück. Ich war dankbar, dass ich friedlich und völlig schmerzfrei war -, ja und auch darüber, dass liebe Menschen fühlbar mit mir in Verbindung waren. Und auch jetzt sind.

 

Danke, Frau Sa

Ich verdanke Frau Sa – so will ich sie nun einmal nennen – so viel. Ihren Vornamen kenne ich nicht. Sie war die Frau des von mir so bewunderten Pfarrers der Gemeinde, in der ich wohnte.

Als ich 18 oder 19 Jahre alt war, traf ich sie eines Tages im Zug von Zürich, wo ich meine Buchhändler-Lehre machte, auf dem Nach-Hause-Weg nach W., meiner Wohngemeinde. Wir sassen uns gegenüber und erzählten uns, was wir in Zürich denn so täten. Sie sagte mir, dass sie immer montags in der Stadt Ballett-Unterricht hätte – schon seit Jahren tanze sie Ballett.

Auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause – im Gespräch vertieft, wir waren beim Pfarrhaus angelangt – fragte sie, ob sie mich zu einem Glas Wein einladen dürfe. Gerne nahm ich ihr Angebot an, fühlte mich geschmeichelt.

So sassen wir uns dann in einem Zimmer gegenüber: die junge, schlanke Frau, die wohl etwas über 40 war und ich, ein Jugendlicher in der Adoleszenz, unsicher in allem, doch am Leben interessiert. – Ihr Gesicht, profiliert und ausdrucksstark, drückte Eigenwille, Zartheit und Trauer aus. Sie schien ein wenig entrückt zu sein, in einer anderen Welt.

Es dauert nicht lange und sie begann über die Schwere ihres Lebens zu erzählen. Ich hörte ihr zu – mit beiden Ohren – und voller Mitgefühl. Sie wuchs in Deutschland auf. Im Krieg, unter ständigem Bomben-Alarm, Tage langen beklemmenden Wartens in kalten Kellern. Und Angst, Angst.
Frau Sa war ein traumatisierter Mensch. Ein Teil von ihr lebte immer noch im Keller, im Alarm-Zustand. In der Angst, im Schrecken.

Frau Sa wurde von den meisten Kirchgemeinde-Mitgliedern abgelehnt, weil sie sich der Rolle «der Frau Pfarrer», die damals ein Muss war, verweigerte. Sie wollte ihr eigenes Leben führen, zu dem besonders der Tanz gehörte. Ihr Mann akzeptierte ihre Eigenständigkeit.
Sie verbrachte ein Leben in Schlaflosigkeit, zumindest ohne Tiefschlaf. Es gelang ihr nicht zu entspannen und loszulassen in den Nächten. Jahrelang. Darüber klagt sie, ohne zu klagen. Sie erzählte mir, wie es sich anfühlte, all die Nächte wach und erschöpft schlaflos dazuliegen. Über Jahre!

Ich hörte ihr einfach zu, stellte ihr vielleicht einmal Zwischen-Fragen, über Wochen, über Monate. Unsere Montags-Gespräche waren zur Tradition geworden.

Ich erzählte ihr, was mich beschäftige. Sie war eine wunderbare Zuhörerin. Ich weiss nicht mehr, was ich ihr berichtete, aber ich erinnere mich, wie gut mir ihr Interesse tat. Meine Mutter, mit der ich alleine zusammenlebte – mein Vater war längst gestorben, meine ältere Schwester verheiratet – war eine denkbar schlechte Zuhörerin. Sie monologisierte, während ich mich einsam fühlte.
Und nun Frau Sa: sie fragte und hörte zu, bis in ihr Herz hinein. – Es fanden sich zwei, die sich nach Zuhörenden sehnten.

Es war eine Art nicht sexueller Liebesbeziehung mit einem leichten Hauch von Erotik. Sie war geprägt von Respekt und Achtsamkeit. Wie dankbar ich doch bin für diese Erfahrung, bis heute, weshalb ich diesen Blog-Beitrag schreibe.

Durch sie lernte ich, wie wunderbar und erfüllend eine solche Beziehung ist, die im Zeichen empathischen Zuhörens steht.

Nach einigen Monaten löste sich diese Beziehung wie von selbst auf, wie ein wunderbarer Wind, der abgeklungen war. Die Begegnung hatte sich erfüllt und ich frage mich, ob ich ohne diese Gespräche Psychotherapeut geworden wäre. Auf jeden Fall war der inter-generative Austausch und das Erleben jener zarten Intimität für mein Leben grund-legend. Seither verstehe ich mich als einen Beziehungs-Menschen, als ein allseits Verbunden. Wovon mein Nachname, Binder, auch zeugt.

Im Islam nennt man solche schicksalshaften Begegnungen, die oft Weichenstellungen im Leben einleiten, Kismet. Es können auch Wieder-Begegnungen seelischer Verwandter sein. Sie lassen sich weder verhindern noch erfolgreich unterdrücken. Sie sind von hohen seelischen, beziehungsweise göttlichen Mächten vorbereitet und arrangiert.

Ich danke Ihnen, Frau Sa. Ich weiss nicht, ob sie noch leben. Wie auch immer: Ich grüsse Sie in bester Erinnerung.

 

 

 

 

Sommer

Sommertime and the living is easy*,
Sonnenbrand zwischen meinen letzten Locken.
Die warmen Sommertag mit leichter Brise
sind geschmolzen,
die wahren üppigen, heissen, schwülen Sommertage
haben begonnen.
Der schwere rote Samtvorhang geht auf,
gibt die Sommerfestspiele preis:
Eine pompöse Kulisse: Rot-orange steigt die Sonne hoch.
Drachen am Himmel und die Linden versprühen ihre
süssen Duft-Wolken.
Träge und schwer fliesset die Aare dahin.
Laszive jungen Frauen mit hoch geschlitzten Maxi-Jupes
tauchen ihre Füsse in die kleinen Uferwellen
und die Fische, schon leicht überhitzt, schnappen nach Luft:
fish are jumpin and the cotton is high*.
Die langen sanften Sommerabende schmeicheln sich ein
und ein sanfter Rausch nimmt von uns liebevoll Besitz.
Nicht dieser harte Gin-Rausch kalter Wintertage,
nein: es ist ein warmer Rausch, der uns einhüllt
und endlich jene langsame, schwere Erotik wieder freisetzt,
auf die wir seit Monaten gewartet haben.
Es ist die Zeit der Rosen, des kühlen gespritzten Weissweines,
der Oliven und Salzmandeln auf dem Jugendstiltischlein am Strand,
oder in der Altstadt, wo eben eine Katze mit hochgestelltem Schwanz
so langsam, irgendwie aufreizend, durch die Gassen stolziert,
dass es unvermeidbar ist, dass die Löffelnden (schau dort diese schwarze Katze!)
Eiscrèmsaft auf ihre Shorts vertröpfeln lassen.

Solche Kleinigkeiten, kaum erwähnenswert, werden jetzt wieder wichtig.
Non-sense in den schönsten Tönen.
Brummender Jazz von nebenan;
ein Velofahrer kämpft sich den Hang hoch, fällt fast um.
Er, dort am Tischchen,
wischt sich die Schweissperlen von der Stirne und sie
schaut gedankenverloren in ihren Ausschnitt,
als ob dort eine kleine Wahrheit darauf warten würde,
von ihr (oder von ihm?) gefunden zu werden.
Alle scheinen zu müde zu sein, um zu denken, zu überlegen.
Wärme, Sinnlichkeit liegt über allem und das Gezwitscher der Schwalben,
die den trägen Mücken nachsausen.
Und dann am Morgen danach wieder Gershwin:
One of these mornin’s you goin’ to rise-up singin’*.
Dies ist die Antwort auf die Wunder des Sommers – und
Gracias a la vida, https://www.youtube.com/watch?v=w67-hlaUSIs
Danke dem Leben.

*Summertime, Gershwin

 

 

 

 

Reflexionen über das menschliche Gesicht

In den letzten Tagen und Wochen erschrak ich einige Male, als ich unvermittelt in ein Gesicht blickte, das vor mir plötzlich auftauchte, wie das oft geschieht, wenn man sich an einem viel begangenen Ort aufhält, wie zum Beispiel in einem Supermarkt. Ich erschrak jeweils über den Gesichtsausdruck, der mir wie eingemeisselt erschien und nur eines auszudrücken schien. Zum Beispiel: «Ich schlage mich hier einfach durch!» oder «Ich passe immer auf!» – oder was auch immer das betreffende Gesicht zu sagen schien.

Ich stellte dann nach einigem Nachdenken und Beobachten fest, dass es viele Menschen gibt, deren Gesichter  ihre charakteristische Art, das Leben zu empfinden und auf es zu reagieren, präzise widerspiegeln.
Es muss das Lebensgrundmuster sein, das sich da visualisiert, eindeutig eingeprägt, eingezeichnet im Gesicht, welches kaum etwas anderes zuzulassen scheint, als eben die charakter-gepanzerte Weise, sich im Leben zurecht zu finden. Da hat sich eine kleine abgeschlossene, ja abgekapselte Identität herausgebildet, eine maskenartige Persönlichkeit (Persona) mit ausschliessendem Charakter.

Danach wurde ich auch auf Gesichter aufmerksam, die nicht nur die vordergründige Reaktionsbereitschaft auf das Leben zum Ausdruck bringen, sondern auch den Erlebnis-Hintergrund. Etwa so: Vordergründiger Ausdruck: «Ich finde mich schon zurecht in dieser Welt», zweite Botschaft:» Ich bin verloren auf dieser Welt, helft mir». Die zweite, hintergründige Botschaft stellt sich gleich nach dem ersten Eindruck ein, wenn man beim Anblick des Gesichtes eine kleine Weile verbleibt.
Manche Gesichter drücken aber auch einen Facettenreichtum aus oder sie erzählen Geschichten.

Das Gesicht lässt sich auch verstehen als die sichtbare Gestalt des Menschen.

So, wie ich das Leben auffasse und auf es reagiere, drückt es sich in meinem Gesicht aus. Man könnte nun denken, dass das menschliche Gesicht, doch sehr viele Facetten des Welterlebens widerspiegeln müsste. Offenbar ist es aber häufig so, dass sich eine Art von Grund-Tenor wie ich im Leben stehe, herauskristallisiert und zu dominieren beginnt und alle anderen Lebens-Nuancen gleichsam aufsaugt und in den dominanten Rahmen stellt.

So wird das Gesicht zur Maske, zur Persona, die alles zu zeigen scheint und alles versteckt. Die ganze Vielfalt und die seelische Lebenstiefe sind maskiert. Mit anderen Worten: Wir neigen dazu, die Welt so zu sehen und zu interpretieren, wie wir es aufgrund unserer Prägungen eingeübt haben. Demgemäss färben wir die Welt ein und sehen sie in der Farbe, die wir auf sie projizieren – während die anderen Farben in Untergrund versinken.

Nun gibt es aber auch Gesichter, die nebst den eingeprägten Qualitäten, Emotionen und Reaktionen noch so etwa wie offenen Lebens-Raum ausstrahlen: Raum für das Unbegreifliche, Unerklärliche, das Zauberhafte und das Erstaunliche des Lebens. Da fühlt man Platz: dieser Mensch nimmt sich Raum und gibt Raum – da ist nicht alles festgelegt. Man spürt: dieser Mensch ist nicht völlig identifiziert mit seinem Charakter seiner kleinen Aussenpersönlichkeit, da ist Luft, da kann sich Neues finden. Da findet sich Ereignisraum, Klang-Raum.

Hier versteht sich die Person als Klangkörper, offen für den durchströmenden Geist, das Geistlicht. Per Sonare (Per-son) meint das Durch-tönende. Materie versteht sich hier als ein Gefäss für das geistige Einströmen. Materie und Geist finden hier zu einem sich ergänzenden Miteinander – im Gegensatz zum trennenden, egozentrischen, eine Kapsel bildende ICH.

Wenn ältere Mensch, die in der zweiten Lebenshälfte damit begonnen haben, sich zu de-identifizieren, um sich von alten, jetzt unpassenden Identifizierungen zu lösen und sich von ihren inneren Strukturen und Zwängen ein Stück weit zu befreien, kommt wieder das Staunen des Säuglings, den sie einst waren, in ihr Gesicht. Diese Gesichter beginnen nun durchlässig und transparent zu werden.

Im Anblick von befreiten Gesichtern können wir uns selbst befreien. In ihnen kann etwas werden, was vorher noch nicht da war. Wenn unser Gesicht freier wird von eingestanzten Prägungen, können sich jene, die uns sehen und uns begegnen, sich weit eher finden, als wenn unser Gesicht, von unseren Konzepten und Vorstellungen über uns selbst festgelegt bleibt. Solche Gesichter verwandeln sich leise in ein Antlitz, in dem das Wesen der Person hindurch strömt.

Bei unserer Wesens-Werdung, bei der sich unser Seelenzentrum mehr und mehr ausweitet,
was man am besten in den Augen erkennen kann, erscheint das Gesicht als weich und belebend, trotz aller Falten, es beginnt zu scheinen und wirkt bewusst und oder unbewusst lebensspendend und frei lassend auf die Umgebung. Allmählich beginnt sich das Angesicht im Gesicht zu zeigen – oder zu erahnen.

Noch was: Wer es zulässt, gesehen zu werden, von den Augen der Wahrheit und der Liebe, wird dieses Anteil-nehmende Umfassende schrittweise integrieren und sein Gesicht wird diese Erfahrung bezeugen.

Im Angesicht, das sich im Seelenzentrum verbirgt und sich zu rechten Zeit teilweise oder ganz offenbart, kann jeder und jede ganz zu sich selber finden. Hier ist vollkommene Freiheit und Angenommensein. Nun können wir alle unsere Masken ablegen. Wir wissen, dass wir geliebt sind. Völlig getröstet atmen wir auf und neue Räume erschaffen sich.

«Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt worden bin.»

  1. Kor. 13,12

Beitragsbild: Zeichnung von Werner Binder

 

 

Unrast und Geborgenheit

Dies ist der zweite kleine Reise-Bericht. – Sind die kleinen Reisen Übungen zur Entwicklung der Bewusstmachung der grossen Lebens-Reise? Bildet sich in jeder kleinen Reise eine Sequenz, also ein Schritt im Prozess der seelischen Bewusstseins-Entwicklung, ab? Anders gesagt: Ist es so, dass ein jetzt virulenter Teil meiner inneren, spirituellen Reise sich über meine äussere Reise legt und, dass sich durch die Interaktion der beiden Ebenen ein Beziehungs-Muster entwickelt, das es zu lesen gilt? Könnte man also eine so kleine Reise, wie die meine von Zürich nach Olten sogar als eine Pilgerreise verstehen?

Ich sitze im Zug und beobachte mich. Ich schaue mir zu, wie meine Blicke herumwandern, um etwas zu finden, das meine Blicke anzieht: sehe jetzt die Frau dort, höre ihre Stimme, bemerke wie sie gestikuliert, einige Sekunden oder Minuten lang, bis meine Blicke weiterziehen, auf der Suche nach etwas, das meine Sinne neu fesselt: die Schneeflecken draussen, der Flusslauf da unten. Schön. Und dann kehre in den Sessel zurück, in dem ich mich ausgestreckt habe. Der Mann, mir gegenüber, hat wässrige Augen, sonst aber ein beherrschtes, angestrengtes Gesicht. Nur die Augen hat er nicht unter Kontrolle. Sie drücken Kummer aus.
Ich bemerke, dass ich im Innersten Halt suche. Jetzt fällt meine Aufmerksamkeit auf die Rundungen der Brüste jener Frau dort… nun nehme ich nur noch Farben, Formen, Geräusche wahr. Jetzt: die freundliche Zugführerin, die geduldig auf Fragen eingeht.

Ich bin auf der Suche. Wenn ich meine Suche auf etwas richten kann, das meine Aufmerksamkeit erregt, gibt mir das Halt für eine paar Sekunden, dann nehme ich Kontakt, ja vielleicht Beziehung auf, bleibe eine Weile bei dem, was ich sehe oder höre, ruhe mich dann ein bisschen aus. Etwas wärmt mich, wenn auch nur für kurze Zeit. Es kann auch ein Gedanke sein, der mich fesselt oder eine schöne Idee oder eine Erinnerung. Dann schweife ich wieder weiter. Ich suche, um anzukommen.

So, hat mein innerer Beobachter festgestellt, läuft es seit Jahrzehnten. Diese Art des Suchens, nach etwas, das mich hält, mich birgt und beruhigt, ist mir zur Gewohnheit geworden. Es ist ein suchendes Umherwandern. – So weit, so gut.

Doch hat diese Gewohnheit auch eine problematische Seite. Das, worauf sich meine Aufmerksamkeit richtet, ist oft von kurzer Dauer. Es ist eine Art von Gedanken-Streunen und ein Suchen nach Attraktoren. Manchmal ist es unruhig und beunruhigend. Streunen und Zerstreuung. Die einzelnen Objekte, an die ich mich kurzfristig anhafte, wärmen mich nur flüchtig und deshalb erhöhe ich mein Tempo des Suchens. Es entsteht Unrast, Anzeichen von Sucht und von Angst. Es ist ein Suchen am falschen Ort, auf der falschen Ebene. Immer, wenn Sucht im Spiel ist, sind wir auf der falschen Ebene, im Bereich der Kompensation.

Vielleicht ist es ein Suchen nach der Mutter. Oder doch eher ein Suchen nach Aufgehoben-sein in Gott.

Dann, nach dieser Einsicht – immer noch im Zug- habe ich den Fokus (den Modus) gewechselt und mich nach innen gewandt. Ich habe in mein Herz geatmet und ich habe mich mit allem verbunden, mit allen mir bewussten Dimensionen, die mich ausmachen: mit meinem Körper, meiner Seele, Mutter Erde, dem Kosmos, dem EINEN. Und ich fühle wahres, bleibendes Aufgehoben-sein. Viellicht hat Jesus das gemeint (dieses sich nach innen wenden), als er von Umkehr gesprochen hat.

Der äussere Such-Modus, so wurde mir dann bewusst, ist Ersatz für die Suche und das Finden des Einen. Ich irre im Vielen herum, wenn ich mich – MICH – vergesse. Ich zerstreue mich aus Angst davor, nicht zu SEIN.

Sind wir Menschen nicht alle mehr oder weniger konditioniert zu einer Art von «Miniaturisierung». Ich meine damit, dass wir uns in der materiellen Vielfalt verlieren, weil wir das Wissen und Spüren der grenzenlosen Zusammengehörigkeit vergessen haben.

Was ich im Zug erlebt habe, war eine Erinnerung – ein Wiedererinnern dessen, was ich bin: ein vielschichtiges Wesen mit einem Kern, der alles hält. ICH BIN GEHALTEN, ICH BIN GEBORGEN.

Nach dem mich mein innerer Beobachter (der Zeuge) auf diese alte Prägung des suchenden Herumirrens aufmerksam gemacht hat, blicke ich wieder nach aussen, sehe mich in diesem kleinen vorübergehenden Ausschnitt des Bahnwagens, der durch den kalten Wintertag rast und ich sehe nun die gleichen Objekte wie vorher, aber nun aus der Klarheit und Stille des Herzens und ich kann mich an dem Vielen erfreuen ohne Unrast, ohne die Seitentriebe irgendwelcher Süchte. Ich sehe aus dem Einen in das Spiel der Mannigfaltigkeit – ohne zu klammern und ohne zu jagen.

Mein innerer Beobachter hat auch bemerkt, dass diese alte Gewohnheit an Macht über mich eingebüsst hat.
Es wird mir auch bewusst, dass diese hier geschilderte Gewohnheit nicht nur meine individuelle Schwierigkeit ist, sondern auch ein gesellschaftliches Korsett, das mich prägt, eine Art von Verhaltens-Zwang, die auf Ausweglosigkeit hinweist. Wir Menschen scheinen in einem Käfig zu sein, in dem wir herumtigern, weil wir den Zugang zum unendlichen Lebensraum, der in uns ist, verloren haben. Die Reduktion auf die materiellen und äusseren Dinge und Reize hält uns auf einem ganz kleinen Platz fest; wir sind abgeschnitten von unserer Seele, an die wir den Glauben fast verloren haben, wenn wir nicht manchmal aus unruhigem Schlaf erwachen würden, mit der diffusen Angst, etwas vergessen zu haben.

wenn wir nicht manchmal aus unruhigem Schlaf erwachen würden, mit der diffusen Angst, etwas vergessen zu haben

Olten – Zürich

An der Bushaltestelle Kloosmatte ist es kalt, grau und windig. Das tiefe, kalte Januarloch eben oder der lange schwarze Januar-Tunnel, fast ohne Sonnenstrahlen. Der Kolonnenverkehr vor mir rollt zähflüssig. Auf der einen Seite, die stets volle Strasse und die Bahnlinie (nach Luzern), auf der anderen Seite, die Aare und die Zug-Linie (nach Bern), dazwischen wohne ich, gleich hinter der Tankstelle, die ich aus meinem Wartehäuschen heraus betrachte. Da hat mein Leben mich nun abgeworfen.

Vorher, beim Essen des Müsli (mit Schafmilch-Quark – enthält Orotsäure für natürliche Zellerneuerung) habe ich gelesen, dass alle Milliardäre der Welt täglich um 2 ½ Milliarden Dollar reicher würden.* Ich versuche dies zu fassen: täglich! Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung verliert täglich 500 Millionen. Täglich! Und es kommt mir auch in den Sinn, dass ich gestern von einem spirituellen Lehrer von der sterbenden Erde gelesen habe. Ich frage mich, ob ich die Erde auch als sterbend erlebe – bin mir nicht recht schlüssig. Sicher aber ist: sie ist schwer angegriffen.

Die Menschen im Bus haben fast alle die Kopfhörer im Ohr und das Smartphone in der Hand, welches sie antippen oder scrollen: rauf und runter. Die meisten Leute scheinen absorbiert zu sein, mit sich selbst beschäftigt. Ich auch.

Im Zug setze ich mich einer Frau gegenüber, die kurz lächelt, wie ein Aufblitzen. Ich vermute, dass sie feinfühlig ist. Sie hat sehr feine Gesichtszüge. Sie tut mir gut. Der Zug fährt an und gleich ist mir wohler im Wissen, dass nicht alles stehen bleibt.

Zwanzig Minuten später taucht der Zug, nach der Tunnel-Durchfahrt (der Baregg-Tunnel?) im Limmattal wieder auf. Neuenhof. Hier spürt man den Wettlauf der Zeit. Hier galoppiert die Zeit, während sie in den Tiefen des Aargaus zähe, schwarz-konservative Bänder zeichnet. Bald wird jede, auch noch so kleine Grünfläche, einem Betonklotz gewichen sein. Das Rennen um die letzten Standort-Vorteile ist im Gange. Im Wettlauf mit der Zeit – was für ein unheilvolle Redewendung!

In meinem geliebten Zürich steige ich aus. Hier rennen die Leute die Rolltreppe hinauf, während sie Olten regungslos stehen. Ein Leben zwischen Reglosigkeit und Rennen. Oben angelangt, die endlich einmal leere Bahnhofshalle und ich bemerke, dass ich bewusst atme. Gut. Hier scheint die Sonne durch die Glaswände -mein Inneres wird mild und fröhlich. Unsere Sonne ist ein Abglanz der Geist-Sonne. Sie hilft mir über manchen Kummer hinweg.
Wenn ich also bewusst atme… bete ich dann? Oder beginnt jedes Gebet mit einem bewussten Atemzug? Ich glaube, ja. Manchmal stelle ich fest, dass es in mir betet. Dann fühle ich mich frei und zu Hause.

Wenn ein Einvernehmen da ist, geschieht es.

An der Bus-Haltestelle, Bahnhofquai füttert ein Mann die Möwen, die ihn kreischend umhüllen, so dass er unsichtbar wird.

Die Leute im 46er sind hier urbaner, modischer gekleidet als in Olten, aber ebenso absorbiert. Auch der Möwenmann ist eingestiegen.

Lehenstrasse. Hier beginnt vertrautes Terrain. Links wohnt Johanna. Ich sage: Hallo; sie antwortet: ah, du, hallo. Der Bus, nun fast leer, fährt weiter.
Hier kenne ich alle Häuser und viele Bäume. Ich grüsse sie. Es ist ein gutes Gefühl, durch ein vertrautes Gebiet zu fahren. Ich atme frei.

«Schwert». Ich steige aus. Die Sonne. Ja! – endlich wieder.
Neben dem Pizza-Laden schliesse ich auf und betrete den gemütlichen schönen Raum und sage wiederum : Hallo, IG (wiederum nur innerlich, aber immerhin).
Es ist etwas Gutes, zu grüssen, auch die vorübergehende Zeit, das Leben, die Vertrauten, die Flüchtigen.

Wenn ich hinausschaue sehe ich die grosse Buche, jetzt ohne Laub. Sie ist auch ein bisschen meine Freundin geworden.

Ich mag die Gewohnheiten des Alltags. Eine davon ist die kleine Reise: Olten – Zürich.

ICH GRÜSSE DIE ZEIT

Ich sitze im Kreis
unendlicher Liebe
und grüsse die Zeit,
die vergeht,
unendlich.

Ich grüsse die Zeit,
die wie ein Tuch im Wind verweht,
an dir,
an mir
vorübergeht.

Ich segne die Zeit,
die vergeht,
an jedem Ort,
wo ich bin,
unendlich.

Dieses Gedicht habe ich wahrscheinlich 2005 geschrieben.

*Oxfam-Bericht

Männliche Lebenskraft

Mein Vater

Er war ein hoch sensibler Mann. Ich suchte hinter seiner eisernen Strenge und Verschlossenheit seine zärtliche und spirituelle Seele (siehe Titel-Foto), die spürbar, aber verborgen war.

Sein Studierzimmer in unserer Wohnung war sein Reich. Dort lebt er. Wenn ich etwas wollte von ihm, so hatte ich anzuklopfen. Das kam nicht selten vor. Bevor ich anklopfe spürte ich heftiges Herzklopfen. Würde ich die Wand seiner Strenge und Diszipliniertheit durchdringen können, würde ich ihm begegnen oder an seiner Strenge abprallen?

Wenn meine Mutter sich zum täglichen Einkauf bereit gemacht hatte, musste sie ihn – den Herrn des Hauses – um das nötige Einkaufs-Geld bitten. Sie streckte ihm die leere, hohle Hand entgegen. Zögerlich warf er ein paar Frankenstücke in die Hand. Niemals genug. Sie wartete solange bis es reichte, um einkaufen zu können. Sie nahm täglich dieses Demütigungs-Ritual auf sich, sie beugte sich, obwohl sie es war, die das Geld, das unserer Familie brauchte, erarbeitete. Sie war Filialleiterin eines Warenhauses. Mein Vater erarbeitete sich mit wenigen Artikeln, die er für Zeitungen schrieb eine Art von Taschengeld.
Auch ich beugt mich, bekam einen runden Rücken.

Mein Vater war so zwanghaft diszipliniert zu sich selbst, wie er zu allen anderen Menschen auch war.

Staub gab es in seinem Zimmer nie. Er staubte täglich alles ab. Hochglanz und Einsamkeit, auch Selbstverlorenheit waren hinter seiner Strenge spürbar.
Manchmal explodiert er; er neigte zu Jähzorn. Aber selten.

Der disziplinierte Mann hält sich und seine Lebenskraft an kurzer Leine

Viele Männer, so wie ich, lernten ihre Lebenskraft zu bändigen. Wir haben gelernt unsere Aggressionen, unsere Wildheit und unsere Lebenskraft in einen Käfig zu sperren oder an die Leine zu nehmen. An eine kurze Leine, denn wir misstrauen ihr. Wir denken zurück an die Kriege, die wir Männer, vor allem im letzten Jahrhundert geführt haben. Diszipliniert wie sie waren, liessen sich die Soldaten an die Front schicken. Millionen von Toten. Hunderttausende von vergewaltigen Frauen. Wir denken an die grossen Reiche des Nationalsozialismus; wir denken an die Zaren, an den Stalinismus, an Napoleon. – Meist unbewusst.
Nach all dem trauen wir unserer männlichen Lebenskraft nicht wirklich, wir Mars-Männer. Wir sind oft auch Frauen gegenüber zurückhaltend. Zurückhaltender als es diesen lieb ist. Wir sind gefährlich. Unsere Kräfte haben ein zerstörerisches Potential. Das sagen uns auch manche Frauen. Also halten wir uns an kurzer Leine.

An einem Männer-Seminar zum Thema «Der wilde Mann» geleitet vom Franziskaner Richard Rohr sah ich viele traurige Männer.

Viele Männer sind traurig darüber, dass sie nicht mehr wild, sondern gebändigt und diszipliniert sind und nicht wissen, wie sie ihre Kraft mit Zärtlichkeit verbinden können.

 

Inzwischen

Inzwischen sind die Jahre vergangen. Ich habe gelernt Kraft und Zärtlichkeit zu vereinen und habe schrittweise gelernt (und lerne immer noch) meiner Kraft zu vertrauen, sie «wildern» zu lassen, sie ihre Wege gehen zu lassen, zu streunen, intuitiv und instinktiv.

Ich lerne, dass meine Aggressionen mir helfen, mich zu verwirklichen.
Aggression kommt von aggredi = sich zubewegen, heran schreiten, sich nähern und nicht zerstören. Nur die unterdrückte, gestaute und verdrängte Aggression/Kraft verwandelt sich in Gewalt.

Das weiss ich inzwischen. Dennoch müssen viele Männer-Menschen wieder einen positiven Zugang finden zu ihrer Kraft, zu Mars.
Inzwischen haben viele Frauen einen gelösteren Umgang gefunden zu ihrer Kraft, als die Männer im Allgemeinen.

Wir Männer müssten noch tiefer in unseren weiblichen Seelen-Anteil vorstossen, um von dieser Tiefe aus wieder erneuert und belebt in unserem eigenen Geschlecht Einzug zu halten. Nun aber elastischer, erneuert im weiblichen Eros und in Verbundenheit mit Liebe.

Weniger Disziplin – mehr schöpferische Freiheit

Wie erwähnt müssten wir Männer wieder Vertrauen gewinnen in unser aggressives und kämpferisches Potential, nachdem es eine lebensbejahende Verbindung mit unserer zärtlichen und liebenden Seite in uns eingegangen ist. Dafür bräuchten wir wahrscheinlich die Hilfe von Frauen.

Von der Leine nehmen

Lassen wir also das wilde Tier in uns, unsere archaische und schöpferische Seite, ja auch die kämpferische Lebenskraft frei! Sie wird sich mit der Lebensfreude (ihrer Schwester) verbünden.

Wenn wir Gutes tun wollen für unsere leidende Welt, so benötigen wir Männer Vertrauen in unsere Kräfte.

 

STREBEN – FALLEN – Eine Herbst-Betrachtung

Im ehrgeizigen Streben des modernen Menschen hat der Herbst kaum Platz.

Da, im Herbst, senkt sich die Energie. Die Blätter fallen schaukelnd zur Erde. Rückzug ringsum. «Wir alle fallen», meint Rilke.
Nehmen wir die Botschaft des Herbstes in uns auf, so sinken wir langsam  ins Verborgene , ins Versteckte ab. Wir decken uns zu, suchen den Schutz und die Wärme in den erdigen Höhlen unserer Stuben, in der bergenden Schwärze.
Alles wird in uns langsamer; Ruhe breitet sich aus, stille Gegenwart und tieferes Atmen entsteht in uns .
Das kann soweit gehen, dass wir selbst von uns loslassen: jenes Drängende, das sich jedem Ausatmen wiedersetzt, das Ego, das selbstverliebte Erfolgsdenken, das nach Höherem strebt, in Wirklichkeit aber kein Aufstieg ist, sondern ein gehetztes Vorwärtsdrängen.
Loslassen also von dieser kleinen Identität, die ein Aufwachen und den Aufstieg in ein umfassendes Dasein verhindert.
Wir reden von Entschleunigung. Der Herbst bietet die Gelegenheit zu verlangsamen, wieder von Neuem einzuwurzeln im Fundament, auf dem wir beruhen:  der Urkraft des Mütterlichen, der uns tragenden Kraft des Vertrauens, das nicht auf Anstrengung beruht, sondern auf Loslassen.

Wir benötigen den zyklischen Aspekt der Zeit, den Zyklus der Erde, der auch in uns angelegt ist.
Widersetzen wir uns dem Zyklus der Jahreszeiten und des Tages, so entfernen wir uns von der eignen Erden-Natur in uns und erschöpfen uns im Zeitgeist des ständigen Machens und Vorwärts-Drängens, im Stress, über den wir uns beklagen, und uns dennoch nicht wagen, uns ihm zu widersetzen und Nein zu sagen zu jenem Ehrgeiz, der uns aufrisst.

Im Herbst breiten sich im Abendland die wie Pilze aus dem Boden hervorschiessenden Oktoberfeste aus. Die Welt als Oktoberfest – mindestens für ein paar Wochen. Weil wir nicht anders zur Ruhe kommen, flüchten wir in diesen fett-dampfenden Rausch von Hähnchen, Dampf und Bier.

Der Herbst erinnert an unser Innenleben, an die Grenzen des äusseren Wachstums und an die Notwendigkeit der Erholung im Nichtstun und an die Feier des Seins.

«Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.»  Rilke

Jetzt, im Herbst steigen in mir die Gefühle von Wehmut, Abschied und Trauer vermehrt auf. Meine/unsere Sterblichkeit wird mir fühlbarer und bewusster – ebenso wie die Einkehr in die Unsterblichkeit. Ich will diese Gefühle zulassen, ja sie sogar willkommen heissen, denn es ist Herbst, Teil-Wirklichkeit unseres Lebens. Ohne diese eher wehmütigen und schmerzlichen Gefühle an mich heran kommen zu lassen, werde ich nicht zu mir finden können, sowenig wie der Wein ohne Kühle und leichten Morgenfrost nicht zu einem wirklich feinen Wein heranreifen kann.