Dies ist der zweite kleine Reise-Bericht. – Sind die kleinen Reisen Übungen zur Entwicklung der Bewusstmachung der grossen Lebens-Reise? Bildet sich in jeder kleinen Reise eine Sequenz, also ein Schritt im Prozess der seelischen Bewusstseins-Entwicklung, ab? Anders gesagt: Ist es so, dass ein jetzt virulenter Teil meiner inneren, spirituellen Reise sich über meine äussere Reise legt und, dass sich durch die Interaktion der beiden Ebenen ein Beziehungs-Muster entwickelt, das es zu lesen gilt? Könnte man also eine so kleine Reise, wie die meine von Zürich nach Olten sogar als eine Pilgerreise verstehen?
Ich sitze im Zug und beobachte mich. Ich schaue mir zu, wie meine Blicke herumwandern, um etwas zu finden, das meine Blicke anzieht: sehe jetzt die Frau dort, höre ihre Stimme, bemerke wie sie gestikuliert, einige Sekunden oder Minuten lang, bis meine Blicke weiterziehen, auf der Suche nach etwas, das meine Sinne neu fesselt: die Schneeflecken draussen, der Flusslauf da unten. Schön. Und dann kehre in den Sessel zurück, in dem ich mich ausgestreckt habe. Der Mann, mir gegenüber, hat wässrige Augen, sonst aber ein beherrschtes, angestrengtes Gesicht. Nur die Augen hat er nicht unter Kontrolle. Sie drücken Kummer aus.
Ich bemerke, dass ich im Innersten Halt suche. Jetzt fällt meine Aufmerksamkeit auf die Rundungen der Brüste jener Frau dort… nun nehme ich nur noch Farben, Formen, Geräusche wahr. Jetzt: die freundliche Zugführerin, die geduldig auf Fragen eingeht.
Ich bin auf der Suche. Wenn ich meine Suche auf etwas richten kann, das meine Aufmerksamkeit erregt, gibt mir das Halt für eine paar Sekunden, dann nehme ich Kontakt, ja vielleicht Beziehung auf, bleibe eine Weile bei dem, was ich sehe oder höre, ruhe mich dann ein bisschen aus. Etwas wärmt mich, wenn auch nur für kurze Zeit. Es kann auch ein Gedanke sein, der mich fesselt oder eine schöne Idee oder eine Erinnerung. Dann schweife ich wieder weiter. Ich suche, um anzukommen.
So, hat mein innerer Beobachter festgestellt, läuft es seit Jahrzehnten. Diese Art des Suchens, nach etwas, das mich hält, mich birgt und beruhigt, ist mir zur Gewohnheit geworden. Es ist ein suchendes Umherwandern. – So weit, so gut.
Doch hat diese Gewohnheit auch eine problematische Seite. Das, worauf sich meine Aufmerksamkeit richtet, ist oft von kurzer Dauer. Es ist eine Art von Gedanken-Streunen und ein Suchen nach Attraktoren. Manchmal ist es unruhig und beunruhigend. Streunen und Zerstreuung. Die einzelnen Objekte, an die ich mich kurzfristig anhafte, wärmen mich nur flüchtig und deshalb erhöhe ich mein Tempo des Suchens. Es entsteht Unrast, Anzeichen von Sucht und von Angst. Es ist ein Suchen am falschen Ort, auf der falschen Ebene. Immer, wenn Sucht im Spiel ist, sind wir auf der falschen Ebene, im Bereich der Kompensation.
Vielleicht ist es ein Suchen nach der Mutter. Oder doch eher ein Suchen nach Aufgehoben-sein in Gott.
Dann, nach dieser Einsicht – immer noch im Zug- habe ich den Fokus (den Modus) gewechselt und mich nach innen gewandt. Ich habe in mein Herz geatmet und ich habe mich mit allem verbunden, mit allen mir bewussten Dimensionen, die mich ausmachen: mit meinem Körper, meiner Seele, Mutter Erde, dem Kosmos, dem EINEN. Und ich fühle wahres, bleibendes Aufgehoben-sein. Viellicht hat Jesus das gemeint (dieses sich nach innen wenden), als er von Umkehr gesprochen hat.
Der äussere Such-Modus, so wurde mir dann bewusst, ist Ersatz für die Suche und das Finden des Einen. Ich irre im Vielen herum, wenn ich mich – MICH – vergesse. Ich zerstreue mich aus Angst davor, nicht zu SEIN.
Sind wir Menschen nicht alle mehr oder weniger konditioniert zu einer Art von «Miniaturisierung». Ich meine damit, dass wir uns in der materiellen Vielfalt verlieren, weil wir das Wissen und Spüren der grenzenlosen Zusammengehörigkeit vergessen haben.
Was ich im Zug erlebt habe, war eine Erinnerung – ein Wiedererinnern dessen, was ich bin: ein vielschichtiges Wesen mit einem Kern, der alles hält. ICH BIN GEHALTEN, ICH BIN GEBORGEN.
Nach dem mich mein innerer Beobachter (der Zeuge) auf diese alte Prägung des suchenden Herumirrens aufmerksam gemacht hat, blicke ich wieder nach aussen, sehe mich in diesem kleinen vorübergehenden Ausschnitt des Bahnwagens, der durch den kalten Wintertag rast und ich sehe nun die gleichen Objekte wie vorher, aber nun aus der Klarheit und Stille des Herzens und ich kann mich an dem Vielen erfreuen ohne Unrast, ohne die Seitentriebe irgendwelcher Süchte. Ich sehe aus dem Einen in das Spiel der Mannigfaltigkeit – ohne zu klammern und ohne zu jagen.
Mein innerer Beobachter hat auch bemerkt, dass diese alte Gewohnheit an Macht über mich eingebüsst hat.
Es wird mir auch bewusst, dass diese hier geschilderte Gewohnheit nicht nur meine individuelle Schwierigkeit ist, sondern auch ein gesellschaftliches Korsett, das mich prägt, eine Art von Verhaltens-Zwang, die auf Ausweglosigkeit hinweist. Wir Menschen scheinen in einem Käfig zu sein, in dem wir herumtigern, weil wir den Zugang zum unendlichen Lebensraum, der in uns ist, verloren haben. Die Reduktion auf die materiellen und äusseren Dinge und Reize hält uns auf einem ganz kleinen Platz fest; wir sind abgeschnitten von unserer Seele, an die wir den Glauben fast verloren haben, wenn wir nicht manchmal aus unruhigem Schlaf erwachen würden, mit der diffusen Angst, etwas vergessen zu haben.
…wenn wir nicht manchmal aus unruhigem Schlaf erwachen würden, mit der diffusen Angst, etwas vergessen zu haben