BETEN

Für mich ist Beten fundamental. Beten ist das Fundament, der Urgrund, der Wesensgrund.

Im Gebet ereignet sich Beziehung zwischen Liebenden, also Liebesbeziehung.
Der Gebetsraum, der sich im Zwischenraum der Liebenden aufbaut, nenne ich auch den Raum der Begegnung, der Intimität und der Innigkeit.

Wenn zwei aufeinander hören, bildet sich Hör-Raum, Schwingungsraum. Resonanz. In ihm bildet sich Substanz.
Gebet ist Tiefen-Kommunikation. Kommunikation heisst Teilen.

Bleiben wir vorerst beim Gebet des Menschen zu Gott – vielleicht sprichst Du lieber von Allah oder von Mutter-Vater, oder vom All-Einen, vom Geliebten oder vom Ursprung oder der Quelle. Wie auch immer. Da die göttliche Quelle auch im Seelenkern anwesend ist, so kann man Beten auch verstehen als ein Dialog mit sich selbst, also als ein Selbst-Gespräch, ein Gespräch mit dem höheren Selbst.

Wenn der Betende durch offenes und hingebendes Da-Sein den Begegnungsraum aufgebaut hat, beginnt der Herzens-Dialog.

Um in Resonanz zu kommen zum grossen DU, benötigen wir eine für uns günstige Balance sowohl von weiblichen, wie auch von männlichen Eigenschaften:

Die männlichen Qualitäten: Eine sehnende, vielleicht sogar leidenschaftliche Hinwendung zur Geliebten, zum Geliebten. Der Betende ist ausgerichtet, konzentriert auf das DU. Er erinnert an einen Liebhaber, der vor seiner Angebeteten niederkniet, flehend, sehnend mit einer Rose in der Hand. Er ruft nach ihr oder er flüstert, erregt, hingebend, feurig.

Die Sprache der Liebs-Mystik, insbesondere in der Tradition der Sufis, kennt keine Scheu, die spirituelle Liebesbeziehung auch in erotischer Sprache auszudrücken.

Die weiblichen Qualitäten: Das spirituelle Herz bildet eine empfangende Form: ein Schale oder einen Kelch. Die Empfindung weit, warm und fliessend, lauschend, das Gefühl sanft-fein, zart-berührt.
Das Weibliche umhüllt auch, spendet liebevoll Geborgenheit, schätzt, akzeptiert, glüht, überschäumt.

Beide Qualitäten in Ergänzung schaffen das gute Klima für das Gebet. Manchmal hilft uns eher die weibliche Seite, manchmal die männliche, um in Beziehung zu gehen.

Ich glaube, dass die meisten Menschen von uns, die weibliche Qualität des Empfangens mehr zu entwickeln haben – und wahrscheinlich ist es auch so, dass das empfangende Lauschen wichtiger ist, als das Finden des eigenen Ausdrucks und des Formulierens, weil unsere Gesellschaft das «Machen», das nach Aussen gehen, einseitig betont. Gleichwohl ist es sehr bewusstseinsbildend, wenn wir tiefste Empfindungen, Anliegen und Bitten feinfühlig in Sprache bringen. Was wir auf diese Weise zum Ausdruck bringen, wird gehört. Daran habe ich keinen Zweifel, denn es ist etwas Zuhörendes und Anteilnehmendes in allem, was ist.

Der Dialog beim kontemplativen Gebet ist in Stille eingebettet. Manchmal entwickelt sich ein wortloser Austausch, ein inniges Zusammensein, wo sich Geben und Nehmen nicht mehr so klar unterscheiden lässt; vielmehr entsteht ein liebendes Zusammen-Sein in Freude und Seligkeit. Daraus fliessen manchmal sehr tiefe Einsichten.

Sat-cit-ananda, auch saccidanana geschrieben, heisst in der hinduistischen Tradition nach Aurobindo: «Sein-Bewusstsein-Seligkeit; Kraft und Sein eins geworden in Seligkeit; die höchste Wirklichkeit als das im Selbst existierende Sein.»
Saccidananda ist eine Drei-Einheit oder Trinität. Im Gebet wird sie oft erlebbar.

Das kontemplative Gebet ist ein non-dualer intimer Austausch in Liebe. Zwei in Einheit, das Eine in Zweiheit. In den Räumen der Begegnung, die sich untereinander verbinden, entsteht das Fundament, auf dem sich Mensch und Menschheit entfalten.

Es muss wohl kaum noch gesagt werden, dass es weder das Internet, noch sonst welche Netzwerke sein können, die eine Alternative dafür sein können für den Boden (Humus im Sinne von Humanität, der sich durch die Herzensbeziehungen aufbaut), der sich betend bildet. Es ist Licht-Erde, die entsteht.

Der erwachte, innere Mensch ist in einem Zustand des Gebetes. Er ist in einem immerwährenden Gebet. Wir sprechen hier vom Herzensgebet. (Vergl. Blog: Atem, 2. Teil, 5. Jan. 19)

«In der ewigen Geburt, die im Grund und im Innersten der Seele geschieht, ergiesst sich Gott mit solchem Licht in die Seele, dass ihr Wesensgrund davon ganz erfüllt wird und das Licht sich hinausschleudert in die Kräfte der Seele und überfliesst in den äusseren Menschen.»
Meister Eckhart, aus Predigt 103

Ich bin überzeugt, dass Meister Eckhart hier eine sowohl persönliche, wie auch eine allgemein menschliche Tiefenerfahrung auf eine wunderbare, treffliche Art beschreibt, wie man sie wahrer und schöner kaum ausdrücken könnte.

Gebet ist auch Geburts-Raum, denn in der Begegnung der Liebes-Beziehung entsteht neues Leben, aus LIEBE geboren.

Wenn zwei Menschen, die sich lieben, im andern auch den göttlichen Kern sehen und diesen begrüssen – Namaste – beten sie dann?

Ja, ich glaube, dass dies auch eine Form von Gebet ist. Es ist ja nicht von ungefähr, dass vor allem Männer von der Angebeteten sprechen, nämlich dann, wenn sie das Wesen ihrer Geliebten erahnen oder mehr noch, fühlen, also nicht nur den äusseren Mensch schätzen, sondern mehr noch den inneren.

Wenn sich im Gebet Geist (Himmel) und Erde verbinden entsteht das Fundament der «neuen Erde»: Licht-Materie.
Es ist die LIEBE im Begegnungs-Raum, welche den Humus/die Licht-Erde bildet.

Die Ehe, der Bund zwischen Gott und Mensch wird genährt durch die gelebte Liebes-Beziehung, das Gebet. Jüdische Mystiker sagen: «Bei der Ehe-Scheidung weint der Altar».
In esoterischer Lese-Art meint «Scheidung» oder «Ehebruch», die Trennung von Gott und Mensch und die Trennung von Geist und Materie.

Und deshalb ist das Gebet so fundamental, weil die Trennungen auf verschiedenen Ebenen weit fortgeschritten sind und es das heilende, Leben erzeugende Gebet braucht.

Ich habe das Bedürfnis, es noch einmal zu sagen: Das Gebet ist das Fundament.