Im Seins-Raum

Manchmal ist es mir ein Bedürfnis innere Erfahrungen weiterzugeben, zu teilen. Bevor ich sie in Worte fasse, überprüfe ich das Erkannte im Innern, ob das, was sich formulieren möchte, tatsächlich dem entspricht, was ich innerlich erlebe und erfahre. Wenn keine Übereinstimmung vorliegt, gelangt es in keinen Text.
In welchem Masse meine innere Wahrheit auf andere Menschen übertragbar ist und wie weit sie verallgemeinert werden kann, kann ich nicht beurteilen.

Ich lebe im Seins-Raum. Es ist mein wahres Wesen, welches im Seins-Raum lebt. Dieser Raum ist sowohl leicht, wie auch dicht. Hier bin ich von Wesenheiten umgeben. Hier bin ich ganz, während ich mich im Raum der Alltags-Erdenwelt als sehr relativ und vergänglich erlebe.

Im Seins-Raum ist meine Heimat.
Er ist völlig beseelt.
Hier dehnen sich alle meine Dimensionen, die zu mir gehören, aus. Ich weite (erweitere) mich da. Alles ist gut bis in die Tiefe des Seins.

Seins-Tiefe: ganz unten die Grund-Strömungen der Lebenskraft, in der Höhe lobende Wesen in ihrem Liebestanz.

In der Versenkung, zum Beispiel in der Meditation oder im kontemplativen Gebet, manchmal auch in psychotherapeutischer Körper-Arbeit, verändert sich das Zeit- und Raumempfinden:
Zeit erlebe ich als Gegenwärtigkeit, ich spüre sie als nährende und schöpferische Essenz.

Raum dehnt sich; er ist grenzenlos, leicht und dicht zugleich. Eine schimmernde Sphäre. Das Wesen (Ich) und der mich umgebene Seins-Raum unterscheiden sich nur graduell. Der Seins-Raum ist auch in mir, so wie er mich umgibt. Alles ist wechselseitig verbunden, es gibt da keine isolierten Einzelteile.
Der Raum atmet, pulsiert. Hier ist keine Schwerkraft, sondern eher ein Gleiten, ein Schweben.
Verweile ich im Seins-Raum, der auch ein Bewusstseins-Raum ist, erfahre ich seine intensive Lichtkraft immer mehr (vergleiche den letzten Blog: Licht und Bewegung). Das Gefühl: Ich bin aufgehoben, beheimatet. Hier bin ich wirklich, hier bin ich real. LIEBE und all-gegenwärtige Schönheit, die alles durchströmt. Alles ist hier in LIEBE gesehen und in LIEBE gehört. Anteilnehmendes Leben.

Der innere Mensch, der ins Licht der Wahrnehmung tritt – ich nenne ihn auch das Wesen – ist, so spüre ich das deutlich, real, anwesend, während der von der Zivilisation und der herrschenden Kultur geprägte Mensch grosse illusionäre Anteile (Maya) an sich hat. Manchmal erscheint er als abwesend, unsichtbar. Im Seins-Raum ist Anwesenheit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Seligkeit.

Wenn du, wenn ich, aus diesem Seins-Raum liebevoll mit Mitgefühl ausatmen, können wir das bedrohte Leben auf Erden unterstützen und nähren. Es ist eine Art von stiller Friedensarbeit, die aktive handfeste Friedensarbeit nicht ausschliesst, sondern vielmehr stärkt.

Männliche Lebenskraft

Mein Vater

Er war ein hoch sensibler Mann. Ich suchte hinter seiner eisernen Strenge und Verschlossenheit seine zärtliche und spirituelle Seele (siehe Titel-Foto), die spürbar, aber verborgen war.

Sein Studierzimmer in unserer Wohnung war sein Reich. Dort lebt er. Wenn ich etwas wollte von ihm, so hatte ich anzuklopfen. Das kam nicht selten vor. Bevor ich anklopfe spürte ich heftiges Herzklopfen. Würde ich die Wand seiner Strenge und Diszipliniertheit durchdringen können, würde ich ihm begegnen oder an seiner Strenge abprallen?

Wenn meine Mutter sich zum täglichen Einkauf bereit gemacht hatte, musste sie ihn – den Herrn des Hauses – um das nötige Einkaufs-Geld bitten. Sie streckte ihm die leere, hohle Hand entgegen. Zögerlich warf er ein paar Frankenstücke in die Hand. Niemals genug. Sie wartete solange bis es reichte, um einkaufen zu können. Sie nahm täglich dieses Demütigungs-Ritual auf sich, sie beugte sich, obwohl sie es war, die das Geld, das unserer Familie brauchte, erarbeitete. Sie war Filialleiterin eines Warenhauses. Mein Vater erarbeitete sich mit wenigen Artikeln, die er für Zeitungen schrieb eine Art von Taschengeld.
Auch ich beugt mich, bekam einen runden Rücken.

Mein Vater war so zwanghaft diszipliniert zu sich selbst, wie er zu allen anderen Menschen auch war.

Staub gab es in seinem Zimmer nie. Er staubte täglich alles ab. Hochglanz und Einsamkeit, auch Selbstverlorenheit waren hinter seiner Strenge spürbar.
Manchmal explodiert er; er neigte zu Jähzorn. Aber selten.

Der disziplinierte Mann hält sich und seine Lebenskraft an kurzer Leine

Viele Männer, so wie ich, lernten ihre Lebenskraft zu bändigen. Wir haben gelernt unsere Aggressionen, unsere Wildheit und unsere Lebenskraft in einen Käfig zu sperren oder an die Leine zu nehmen. An eine kurze Leine, denn wir misstrauen ihr. Wir denken zurück an die Kriege, die wir Männer, vor allem im letzten Jahrhundert geführt haben. Diszipliniert wie sie waren, liessen sich die Soldaten an die Front schicken. Millionen von Toten. Hunderttausende von vergewaltigen Frauen. Wir denken an die grossen Reiche des Nationalsozialismus; wir denken an die Zaren, an den Stalinismus, an Napoleon. – Meist unbewusst.
Nach all dem trauen wir unserer männlichen Lebenskraft nicht wirklich, wir Mars-Männer. Wir sind oft auch Frauen gegenüber zurückhaltend. Zurückhaltender als es diesen lieb ist. Wir sind gefährlich. Unsere Kräfte haben ein zerstörerisches Potential. Das sagen uns auch manche Frauen. Also halten wir uns an kurzer Leine.

An einem Männer-Seminar zum Thema «Der wilde Mann» geleitet vom Franziskaner Richard Rohr sah ich viele traurige Männer.

Viele Männer sind traurig darüber, dass sie nicht mehr wild, sondern gebändigt und diszipliniert sind und nicht wissen, wie sie ihre Kraft mit Zärtlichkeit verbinden können.

 

Inzwischen

Inzwischen sind die Jahre vergangen. Ich habe gelernt Kraft und Zärtlichkeit zu vereinen und habe schrittweise gelernt (und lerne immer noch) meiner Kraft zu vertrauen, sie «wildern» zu lassen, sie ihre Wege gehen zu lassen, zu streunen, intuitiv und instinktiv.

Ich lerne, dass meine Aggressionen mir helfen, mich zu verwirklichen.
Aggression kommt von aggredi = sich zubewegen, heran schreiten, sich nähern und nicht zerstören. Nur die unterdrückte, gestaute und verdrängte Aggression/Kraft verwandelt sich in Gewalt.

Das weiss ich inzwischen. Dennoch müssen viele Männer-Menschen wieder einen positiven Zugang finden zu ihrer Kraft, zu Mars.
Inzwischen haben viele Frauen einen gelösteren Umgang gefunden zu ihrer Kraft, als die Männer im Allgemeinen.

Wir Männer müssten noch tiefer in unseren weiblichen Seelen-Anteil vorstossen, um von dieser Tiefe aus wieder erneuert und belebt in unserem eigenen Geschlecht Einzug zu halten. Nun aber elastischer, erneuert im weiblichen Eros und in Verbundenheit mit Liebe.

Weniger Disziplin – mehr schöpferische Freiheit

Wie erwähnt müssten wir Männer wieder Vertrauen gewinnen in unser aggressives und kämpferisches Potential, nachdem es eine lebensbejahende Verbindung mit unserer zärtlichen und liebenden Seite in uns eingegangen ist. Dafür bräuchten wir wahrscheinlich die Hilfe von Frauen.

Von der Leine nehmen

Lassen wir also das wilde Tier in uns, unsere archaische und schöpferische Seite, ja auch die kämpferische Lebenskraft frei! Sie wird sich mit der Lebensfreude (ihrer Schwester) verbünden.

Wenn wir Gutes tun wollen für unsere leidende Welt, so benötigen wir Männer Vertrauen in unsere Kräfte.

 

Gebrochene Sexualität – erfüllte Sexualität

Die Kraft der Sexualität
Sexualität, die im Orgasmus gipfelt, ist ein sehr kraftvoller Ausdruck der Lebenskraft und der Lebensfreude, welche im Kosmos ebenso existiert wie in den einzelnen Lebewesen.
Vor dieser intensiven Kraft, die kaum zu bändigen und zu kontrollieren ist, hatten und haben wir Menschen offenbar Angst, gerade weil wir ihre Wildheit und ihre zärtliche und schmelzenden Kraft der Vereinigung nicht zu ertragen scheinen.

Geschwächte und gebrochene Sexualität
Deshalb schwächen und brechen wir ihre unmittelbare Kraft, die auch eine transformatorische ist, mit folgenden Mitteln:

  • Wir verteufeln sie, bezeichnen sie als Sünde;
  • Wir entwurzeln sie, entkörperlichen sie und nehmen ihr die Seele, reduzieren sie auf visuelle Anreize.
  • Wir halten sie an der Oberfläche fest, kommerzialisieren sie.

Nicht-befreite und zurückgehaltene Sexualität führt zu Auswüchsen, wie alles Verdrängte. Das Verdrängte will wiederkehren. Ein aktuelles Beispiel sind die zahlreichen pädophilen Übergriffe in der katholischen Kirche.
Da wir Menschen unsere Sexualität zu lange von uns abgespalten haben, kehrt sie verkümmert und entstellt wieder in unser Bewusstsein, eingezwängt in Scham- und Schuldgefühle. Sie zeigt sich als Suchtverhalten oder in Impulsen, die uns ängstigen, weil wir sie nicht als ich-synton (zu unserem Ich gehörend) erleben können. Lange unterdrückte sexuelle Impulse verwandeln sich oft in Gewalt.
Viele Menschen leiden unter einer unerfüllten Sexualität. Sie legen sie resigniert beiseite und glauben nicht mehr an friedvollen sexuellen Austausch. Sie kompensieren ihre Abwesenheit mit Essen und Trinken, durch Unterhaltungen aller Art, durch unruhiges Reisen oder durch arbeitssüchtiges und stressiges Arbeiten.

Teilen und Mehren der Lebenskraft – Wilhelm Reich
Ohne ein tiefes vertrauensvolles Miteinander von Frau und Mann und ohne freudvollen sexuellen Austausch der Geschlechter entgeht der Menschheit jene Energie, die sie unbedingt braucht, um sich selbst und die Erde vor dem Verfall zu retten.

Nebst der Fortpflanzung des Lebens brauchen wir ein reiches befriedigendes sexuelles Leben, um den Fluss der Lebensenergie aufrechtzuerhalten, zu teilen und zu mehren.

An eine Liste aller Arten von Missbrauch der Lebenskraft durch unterdrückten und gewalttätigen Sex mag ich gar nicht denken, geschweige denn eine solche zu erstellen. Sie würde kaum enden.

Wilhelm Reich, der Psychoanalytiker und Forscher, der ein Leben lang an die Wichtigkeit einer fliessenden und bejahten Lebenskraft und Sexualität erinnerte, wurde, wo immer er war in seinem Leben, abgelehnt und verspottet. Er schrieb in seinem Buch «Christusmord» folgendes:

„Das lebendige Leben wird von Christus repräsentiert. Er ist einfach ungeniert gesund – und allein. Weil er so ist, wie er ist, erinnert er alle anderen Menschen an ihre emotionelle Verkrüppelung. Er ist faszinierend, die Menschen saugen sich mit seinem brillanten Charisma voll, doch sie können nicht so sein wie er, obwohl jeder Mensch diesen Christus, das ungepanzerte, nur lebendige Leben in sich trägt. Die Erkenntnis, dass sie so sein könnten wie Christus und dass sie dieses lebendige Erleben niemals erfahren werden, dass es nicht zu „haben“ ist, diese Erkenntnis ist ein unerträglicher Schmerz. Die einzige Methode, sich Christus zu bemächtigen, ist seine Vernichtung. Und deshalb müssen sie ihn ermorden. Sie ermorden den Christus seither in allen Kindern, sie ermorden ihn in der natürlichen Umgebung und in sich selbst.“

Sexualität und Alter – Spiritualisierung der Sexualität
Viele Mensch unterdrücken ihre Sexualität oder mindern sie, wenn sie älter werden. Sie drosseln ihre Flamme und damit ihre Lebensenergie, wodurch sie krankheitsanfälliger werden. Und: ihre Lebensfreude vermindert sich.

Wir benötigen die Flamme der sexuellen Kraft solange wir leben, ob wir nun unsere Sexualität aktiv (physisch) ausleben oder nicht: sie sollte brennen. Dafür müssen wir ev. den Schmerz darüber aushalten lernen, sie mangels Gelegenheit oder Krankheit nicht immer ausleben zu können oder zu wollen.

Ich glaube, dass der Mensch eine gewisse Reife erlangen muss, um die kosmische Dimension (die ich besonders als Kraft und Schönheit erfahre) in die Sexualität integrieren zu können. Gerade der gereifte, ältere Mensch hat die Möglichkeit, sich dafür zu öffnen.

Die Sexualität will «spiritualisiert» werden, damit sie sich erlösen kann – damit die unsägliche Spaltung von Geist und Materie, von Spiritualität und Sexualität überwunden werden kann. Wäre dies nicht eine wunderbare Alters-Vision?

Zum Schluss Friedrich Nietsche:

Denn alle Lust will Ewigkeit -,
tiefe, tiefe Ewigkeit.