ATEM – 1. Teil

Die Arbeit mit Atem halte ich für eine grundlegende und bedeutende spirituelle Praxis, die immer und überall und bei jeder Gelegenheit anwendbar ist. Dennoch, meine ich, ist sie unterschätzt, ausser in den mystischen Traditionen aller Glaubensrichtungen, wo der Atem als heilig gilt.

Wir sind atmende Wesen. Von grosser Wichtigkeit bei der Atem-Praxis ist auch der Aspekt der Transformation und Wandlung. Insofern könnte dieser Text auch als Teil 4 der Artikel-Serie zum Thema Wandel angesehen werde. Da das Thema aber so wichtig ist und so viele Anwendungsbereiche hat, soll es einen eigenständigen Raum einnehmen.- Übungs-Empfehlungen sind kursiv aufgeführt.

Der zweite Teil des Artikels wird in einer Woche folgen.

Vor vielen Jahren erlebte ich in einer Atem-Sitzung meiner Körper-Psychotherapie-Ausbildung auf einmal, wie sich das Einatmen verwandelte: Es war nun nicht mehr einfach Luft, die in mich eintrat, sondern Nahrung, Seelen-Nahrung, die in mich einfloss beim Einatmen, Substanz des Lebens. Sie erinnerte mich an die Muttermilch in den ersten Lebensmonaten meines Lebens. Dieses Mal aber war es weniger physische Nahrung, als vielmehr Lebens-Substanz. «Mit jedem Atemzug empfange ich Leben», so wurde es mir damals bewusst. Die «Luft» trat nicht einfach nur durch die Nase in mich ein, sondern durch alle Poren meines Körpers.

In einer späteren Lebensphase erlebte ich beim Ausatmen Schwere und Beengung, die von mir abfiel, wie auch eine befreiende Ausweitung und Ausdehnung meiner Seele. Mein Atem bekam die Qualität von Licht. Licht-Atem.

Als ich mich, nochmals in einer späteren Lebensphase, mit dem Herzensgebet und damit mit der «Christus-Atmung» beschäftigte, erfuhr ich die transformative Wirklichkeit des Atems.
Ich erkannte, wie sich mein Atem von der Ego-Angst-Steuerung ablöste und zur kosmischen Atmung wurde, gehalten und gelenkt von der Herzenskraft, der universellen Liebe und Barmherzigkeit. Obwohl diese Erfahrungen jeweils zeitlich begrenzt waren, veränderten sie mein Leben massgeblich. Atem, Licht und Liebe verschmolzen zu einer einzigen Bewegung des Lebendigen. Es war eine Erfahrung, die mir offenbarte, wie sich Leben aus der Quelle anfühlt: unaussprechlich schön und frei, Glück, unbegrenzt.

Ich empfehle meinen Leserinnen und Lesern für eine bestimmte Zeit, z.B. 10 Minuten, beim Atmen diesen mit Licht und Liebe zu verschmelzen. Denke: Licht-Liebes-Atem. Günstig ist es, nach einiger Zeit, diese Weise zu atmen, zu wiederholen, ja, immer wieder in kleineren oder grösseren Abständen zu wiederholen.

Atem nährt, verbindet und transformiert. Er kann dich von der Ego- zur Wesensatmung führen.

Der Atem ist eine Art rhythmisches System, welches die drei grossen Bereiche des menschlichen Lebens umfasst: Körper, Seele und Geist.

Der atmende Körper
Beim Laufen und Bergsteigen etwa, oder beim Tanzen, spüren wir wie unser Körper aufgeladen wird mit Sauerstoff, mit Vital-Energie, wie auch mit Lebensenergie (Ki). Wir spüren unsere Kraft. Wir fühlen uns energisch, erregt und zupackend, in vollem Körperbewusstsein.

Die atmende Seele
Im Kontakt mit unserer Seelen-Atmung können wir leicht verschiedene Punkte, Organe, Orte, Pole und Menschen miteinander in Verbindung setzen. Fühlen wir zum Beispiel unsere verletzte Hand können wir den Atem zu ihr leiten, ihr so Aufmerksamkeit und Energie zukommen lassen. Ebenso ist es möglich einem Menschen Atemkraft zuzuführen, wenn wir liebevoll an ihn denken. Die Energie folgt der Aufmerksamkeit! Wir können den Atem zu Orten lenken, die wir visualisieren.
Beim Ein -und Ausatmen verbinden wir Innen- und Aussenwelt und wir können leicht fühlen, dass wir die Luft mit anderen Lebewesen teilen. Die Luft als das verbindende Element – im Atem erfahrbar. Während wir bei flachem Atem unsere Gefühle drosseln, verstärken wir unsere Emotionen und bringen sie zum Fliessen bei vollem und bewusstem Atem. Voller und bewusster Atem verlebendigt, dynamisiert und öffnet Blockaden, leitet Heilung ein.

Geist-Atem
Der geistige Atem ist das Innerste, Subtilste unserer Atmung: Odem, Hauch. Er ist zartestes Strömen. Im ersten Atemzug unseres Lebens kommen wir auf diese Welt. Geist-Atmung ist Schöpfungs-Atem. Er gibt uns das Leben. Er hilft uns, in Beziehung zu Gott zu kommen, zu unserem Ursprung. Wir erfahren ihn oft auch als geistiges Licht, welches mit physischem Licht nicht zu verwechseln ist. Das geistige Licht berührt uns zärtlich! In der äussersten Verfeinerung von uns (manchmal erleben wir diese äusserste Feinheit wie ein Nichts), spüren wir den Geist-Atem als machtvoll-zart und beglückend. In ihm sind wir aufgehoben. Deshalb sprechen wir auch vom heiligen Atem; er ist zugleich universell und persönlich. Atem-Bewusstsein ist da ein treffender Begriff. Im geistigen Atmen sind wir dauernd in Verbindung mit der Kraft und Liebe, die uns hervorgebracht hat und auch jetzt hervorbringt. Im Atem der Dankbarkeit können wir nichts anderes, als präsent sein.

Die Gleichzeitigkeit von bewusstem Atmen und dem Empfinden strömender Dankbarkeit bringt uns ohne weitere Bemühungen ins Hier und Jetzt. Es ist ein Versuch wert.

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Ich möchte hier die Unterscheidung zwischen dem persönlichen kleinen Atem und der grossen Wesens-Atmung treffen.

Der kleine Atem ist eine Art von Drehen um sich selbst. Der Drehpunkt ist die Illusion, dass wir vom Ganzen getrennte, also isolierte Existenzen sind. In diesem Drehen ist viel Angst enthalten, die wir aus- und wieder einatmen.

Der Wesens-Atem, den ich als gross bezeichne, ist eher spiralförmig. Sein Mittel- und Drehpunkt ist das Herz als Verkörperung der bedingungslosen Liebe. Von ihm geht der Lenkungs-Impuls und das erweiterte und kosmische Bewusstsein aus.

Die Wirkung des bewussten Atmens auf die geistige Verfassung des Menschen kann rasch und überraschend eintreten, wenn wir bereit sind beharrlich unseren Atem ins Bewusstsein zu heben. Es verbindet uns mit dem Innersten, das wir sind, lässt uns unsere Wesenheit erleben. Er beseelt uns.
Der Atem erweckt, wenn wir uns bewusst sind, die Seele.

Es wird gesagt: Wenn Gott ausatmet, kommen wir, ja das ganze Universum, ins Leben (zur Welt), atmet Er ein, so kehren wir zu Ihm zurück. Wenn wir Menschen einatmen, kommen wir zur Welt, wenn wir ausatmen, kehren wir – insbesondere, wenn wir Sterben – zum Schöpfer/zur Schöpferin zurück.

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Im nachfolgenden Text-Teil werde ich auf das Herzensgebet (eine christliche Tradition) eingehen und auf das «Tonglen» (eine buddhistische Tradition). Beide Methoden stellen grossartige Entwicklungswege der Wesens-Werdung des Menschen dar. Beide Methoden betonen die Entfaltung des Mitgefühls.

Titel-Bild: «Atemzug», eine Zeichnung von Werner Binder

 

Strömendes Leben – Wege aus der Kontrolle

Die allumfassende Liebe, die sich auch als geistiges Licht (oder umgekehrt: das geistige Licht, das sich auch als allumfassende Liebe) ausdrückt, ist immer da, jetzt gegenwärtig. Die primäre Wirklichkeit oder anders ausgedrückt DIE REALITÄT bildet sowohl den Hintergrund, auf dem sich der Tanz des Lebens abspielt, wie auch das Zentrum ( das Herz) einer jeden lebendigen Manifestation. Jeder Mensch ist umhüllt und durchströmt von der gütigen, liebevollen göttlichen Gegenwart, aus der alles Leben kommt. Immer. – Dies ist das Fazit meiner Erkenntnisse nach 73 Jahren Leben.
Alles, wie auch wir Menschen, sind erleuchtet – und sind es dennoch nicht, solange wir das, was uns das Leben gibt, abweisen oder ignorieren. Die Sonne kann noch so schön scheinen, ohne dass wir dies bemerken – und wir bemerken es nicht, wenn wir zum Beispiel in einem von uns selbst völlig abgedunkelten Zimmer sind.
Unser verdunkeltes und noch wenig entwickeltes menschliches Bewusstsein rührt daher, dass wir Menschen im Allgemeinen das Licht der Liebe und der Wahrheit zurückweisen und/oder es als nicht existent erklären.
Viele denken, dass uns der Verstand und die menschliche Intelligenz genug sein müssten. Künstliche Intelligenz (KI) könne man hinzunehmen. Sie zu entwickeln sei dem menschlichen Verstand möglich.
Was, so denken Manche, würden so schwammig Konzepte wie Seele und Geist da nützen.
Das ist eben der Punkt: Seele und Geist gelten bei Vielen nur als Konzepte und Vorstellungen, die keinen Realitätsanspruch haben könnten; diese seien allenfalls das Resultat von Gehirn-Funktionen, wie sie denken.
So etwas wie geheimnisvolle, nicht ganz zu ergründende Wirklichkeitsebenen würden nicht existieren. Ein göttliches Wesen anzunehmen wäre lächerlich.

Ich betrachte diese Anschauungen als Allmachts-Ansprüche, die so etwas wie ein Angewiesen sein oder eine menschliche Ur-Bedürftigkeit in Abrede stellen. Diese Haltung ist in abgeschwächter Form bei fast allen Menschen festzustellen, auch bei solchen, die sich als spirituell ausgerichtet sehen.
Viele Menschen nehmen spirituelle Erfahrungsberichte von Menschen nicht als bare Münze, nicht als Wirklichkeit, sondern als Bilder über… oder Vorstellungen von… oder Hoffnungen auf… etwas wahr, das einmal sein könnte, nicht aber als Tatsachen, als Realität, also als etwas, dass es tatsächlich gibt, hier und jetzt.
Deshalb bleibt die bedingungslose Liebe, das grosse Licht der Wahrheit und der grosse Segen durch uns Menschen empfindlich abgeschwächt und darum kann das Licht in uns nicht zum Strahlen kommen. Deshalb lebt die Menschheit in einem Dämmerlicht, aufgeschreckt von Irrlichtern und ungezählten Versuchen, das Leben zu verbessern, ohne jemals das Glück nahen zu fühlen.
Das, was uns rettet und heilt, weisen wir zurück, eher passiv-resignativ, denn als lärmend und aggressiv.
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Das, was uns rettet, ist in jedem (wirklich in jedem!) Atemzug gegenwärtig.

Es heisst im Prolog des Johannes-Evangeliums 1, 9 und 10 (und diese Passage macht mich stets traurig):
«Er war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der zur Welt kommt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, und die Welt hat ihn nicht erkannt.
Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht auf.»
Und nun in der Gegenwarts-Form:
«Er ist das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der zur Welt kommt.
Er ist in der Welt und die Welt wird durch ihn und die Welt erkennt ihn nicht. Er kommt in das Seine und die Seinen nehmen ihn nicht auf.» – Du kann st es auch in weiblicher Form lesen.
Und jetzt noch sächlich-neutral:
«ES ist das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der zur Welt kommt. ES ist in der Welt und die Welt ist durch ES geworden, und die Welt erkennt ES nicht. ES kommt in das Eigene und es nimmt ES nicht auf.»

Wir neigen dazu, die heiligen Texte in die Vergangenheit zu legen und sie dort festzuhalten. Wahrheitstexte machen aber vor allem für den gegenwärtigen Moment Aussagen.
Etwas zu empfangen, dass wir nicht unter Kontrolle haben, widerspricht unserem Zeitgeist zutiefst. Unsere Optimierungssucht schliesst alle Bereiche und Ebenen aus (oder minimiert sie), die nicht unserer Kontrolle unterstehen. Wir wollen uns nicht an Kräfte hingeben, die sich ausserhalb von dem bewegen, was wir kennen.
Dabei schliessen wir uns selbst aus, unser lichtes Wesen, das in der Dämmerung auf Befreiung wartet. Unser Kontroll-Anspruch lässt uns einsam werden – und er schneidet uns  von dem ab, was uns heilt und von dem, was wir zutiefst sind.

Ich entdecke auch in mir manchmal eine subtile Art, wie ich mich selbst hindere, mich den Strömen des Lebens und der Liebe hinzugeben, aus Angst die Kontrolle und den Überblick zu verlieren, oder weil ich meine, ich sei es nicht wert, die Fülle annehmen zu dürfen.

Ich glaube, dass es für uns alle hilfreich ist, wenn wir uns selbst und anderen Liebes- und Wiegenlieder vorsingen (es können auch Mantras sein), um uns zu stärken und uns zu ermutigen, uns den flutenden Wellen der Liebe anzuvertrauen.
In jedem Moment, in welchem Menschen solche Selbstbeschränkungs-Mechanismen entdecken und mutig überwinden und im Vertrauen auf jene Liebes-Ströme, die sie über die engen Grenzen hinwegtragen, wird es auf der Welt ein klein wenig heller.

STREBEN – FALLEN – Eine Herbst-Betrachtung

Im ehrgeizigen Streben des modernen Menschen hat der Herbst kaum Platz.

Da, im Herbst, senkt sich die Energie. Die Blätter fallen schaukelnd zur Erde. Rückzug ringsum. «Wir alle fallen», meint Rilke.
Nehmen wir die Botschaft des Herbstes in uns auf, so sinken wir langsam  ins Verborgene , ins Versteckte ab. Wir decken uns zu, suchen den Schutz und die Wärme in den erdigen Höhlen unserer Stuben, in der bergenden Schwärze.
Alles wird in uns langsamer; Ruhe breitet sich aus, stille Gegenwart und tieferes Atmen entsteht in uns .
Das kann soweit gehen, dass wir selbst von uns loslassen: jenes Drängende, das sich jedem Ausatmen wiedersetzt, das Ego, das selbstverliebte Erfolgsdenken, das nach Höherem strebt, in Wirklichkeit aber kein Aufstieg ist, sondern ein gehetztes Vorwärtsdrängen.
Loslassen also von dieser kleinen Identität, die ein Aufwachen und den Aufstieg in ein umfassendes Dasein verhindert.
Wir reden von Entschleunigung. Der Herbst bietet die Gelegenheit zu verlangsamen, wieder von Neuem einzuwurzeln im Fundament, auf dem wir beruhen:  der Urkraft des Mütterlichen, der uns tragenden Kraft des Vertrauens, das nicht auf Anstrengung beruht, sondern auf Loslassen.

Wir benötigen den zyklischen Aspekt der Zeit, den Zyklus der Erde, der auch in uns angelegt ist.
Widersetzen wir uns dem Zyklus der Jahreszeiten und des Tages, so entfernen wir uns von der eignen Erden-Natur in uns und erschöpfen uns im Zeitgeist des ständigen Machens und Vorwärts-Drängens, im Stress, über den wir uns beklagen, und uns dennoch nicht wagen, uns ihm zu widersetzen und Nein zu sagen zu jenem Ehrgeiz, der uns aufrisst.

Im Herbst breiten sich im Abendland die wie Pilze aus dem Boden hervorschiessenden Oktoberfeste aus. Die Welt als Oktoberfest – mindestens für ein paar Wochen. Weil wir nicht anders zur Ruhe kommen, flüchten wir in diesen fett-dampfenden Rausch von Hähnchen, Dampf und Bier.

Der Herbst erinnert an unser Innenleben, an die Grenzen des äusseren Wachstums und an die Notwendigkeit der Erholung im Nichtstun und an die Feier des Seins.

«Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.»  Rilke

Jetzt, im Herbst steigen in mir die Gefühle von Wehmut, Abschied und Trauer vermehrt auf. Meine/unsere Sterblichkeit wird mir fühlbarer und bewusster – ebenso wie die Einkehr in die Unsterblichkeit. Ich will diese Gefühle zulassen, ja sie sogar willkommen heissen, denn es ist Herbst, Teil-Wirklichkeit unseres Lebens. Ohne diese eher wehmütigen und schmerzlichen Gefühle an mich heran kommen zu lassen, werde ich nicht zu mir finden können, sowenig wie der Wein ohne Kühle und leichten Morgenfrost nicht zu einem wirklich feinen Wein heranreifen kann.