STREBEN – FALLEN – Eine Herbst-Betrachtung

Im ehrgeizigen Streben des modernen Menschen hat der Herbst kaum Platz.

Da, im Herbst, senkt sich die Energie. Die Blätter fallen schaukelnd zur Erde. Rückzug ringsum. «Wir alle fallen», meint Rilke.
Nehmen wir die Botschaft des Herbstes in uns auf, so sinken wir langsam  ins Verborgene , ins Versteckte ab. Wir decken uns zu, suchen den Schutz und die Wärme in den erdigen Höhlen unserer Stuben, in der bergenden Schwärze.
Alles wird in uns langsamer; Ruhe breitet sich aus, stille Gegenwart und tieferes Atmen entsteht in uns .
Das kann soweit gehen, dass wir selbst von uns loslassen: jenes Drängende, das sich jedem Ausatmen wiedersetzt, das Ego, das selbstverliebte Erfolgsdenken, das nach Höherem strebt, in Wirklichkeit aber kein Aufstieg ist, sondern ein gehetztes Vorwärtsdrängen.
Loslassen also von dieser kleinen Identität, die ein Aufwachen und den Aufstieg in ein umfassendes Dasein verhindert.
Wir reden von Entschleunigung. Der Herbst bietet die Gelegenheit zu verlangsamen, wieder von Neuem einzuwurzeln im Fundament, auf dem wir beruhen:  der Urkraft des Mütterlichen, der uns tragenden Kraft des Vertrauens, das nicht auf Anstrengung beruht, sondern auf Loslassen.

Wir benötigen den zyklischen Aspekt der Zeit, den Zyklus der Erde, der auch in uns angelegt ist.
Widersetzen wir uns dem Zyklus der Jahreszeiten und des Tages, so entfernen wir uns von der eignen Erden-Natur in uns und erschöpfen uns im Zeitgeist des ständigen Machens und Vorwärts-Drängens, im Stress, über den wir uns beklagen, und uns dennoch nicht wagen, uns ihm zu widersetzen und Nein zu sagen zu jenem Ehrgeiz, der uns aufrisst.

Im Herbst breiten sich im Abendland die wie Pilze aus dem Boden hervorschiessenden Oktoberfeste aus. Die Welt als Oktoberfest – mindestens für ein paar Wochen. Weil wir nicht anders zur Ruhe kommen, flüchten wir in diesen fett-dampfenden Rausch von Hähnchen, Dampf und Bier.

Der Herbst erinnert an unser Innenleben, an die Grenzen des äusseren Wachstums und an die Notwendigkeit der Erholung im Nichtstun und an die Feier des Seins.

«Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.»  Rilke

Jetzt, im Herbst steigen in mir die Gefühle von Wehmut, Abschied und Trauer vermehrt auf. Meine/unsere Sterblichkeit wird mir fühlbarer und bewusster – ebenso wie die Einkehr in die Unsterblichkeit. Ich will diese Gefühle zulassen, ja sie sogar willkommen heissen, denn es ist Herbst, Teil-Wirklichkeit unseres Lebens. Ohne diese eher wehmütigen und schmerzlichen Gefühle an mich heran kommen zu lassen, werde ich nicht zu mir finden können, sowenig wie der Wein ohne Kühle und leichten Morgenfrost nicht zu einem wirklich feinen Wein heranreifen kann.

 

5 Gedanken zu „STREBEN – FALLEN – Eine Herbst-Betrachtung“

  1. Lieber Werner
    Das ist eine wunderbare Betrachtung des Herbstes! Als Kind schon war mir der liebste Monat des Jahres der September mit seinem oft wundersamen Licht und seinen Blumen.
    Auch in mir steigen Gefühle von Wehmut, Abschied und Trauer vermehrt auf, insbesondere in diesem Licht der Sonne, das wir in diesem Jahr auch noch im Oktober erleben dürfen, das aber in den letzten Tagen spürbar den Herbst in sich trägt.
    In grosser Verbundenheit!

  2. Lieber Werner,
    Ja, es ist Herbst, und als Jungfrau-Geborene, meine Jahreszeit.
    Trauer? Wehmut? Nein. Abschied – ja. Eigentlich jeden Abend ist ein Abschied, und in meinem Alter (83) jede Stunde ist ein Abschied von der Vergangener.
    Loslassen? Ich mag diesen Ausdruck nicht! Was ich loslasse, fällt hinunter. Und was mich hält, das kann ich nicht loslassen, auch wenn ich es möchte.
    Früher hat man das Opfer ÜBERGEBEN. Auf den Berg hinaufgetragen, auf den Altar hinaufgelegt. Opfer? Opfern wir die Vergangenheit? Es wäre notwendig, uns auch mit diesem Begriff „auseinander zu setzen“. „Opfere Gott nicht, was ER nicht brauchen kann.“ Heisst es. Oder von der Anderen Seite gesehen: „Behalte nichts, was DU nicht brauchen kannst!
    Ich bin Dir dankbar für Deine Initiative, Werner, – herzlich Agi

  3. Ruth 17.Oktober 2018
    Lieber Werner
    Die ersten Herbstnebel haben sich angekündigt. Die Melancholie und das Abschiednehmen ist für mich noch nicht gekommen.
    Gerade diese Tage sind wundervoll! Die Klarheit, die Weitsicht, die
    reiche Ernte, alles in den prächtigsten Farben erfüllt mich mit
    Freude und Dankbarkeit. Sollen wir nicht diese Intensität mit allen
    Sinnen geniessen. Carpe diem.

Schreibe einen Kommentar zu Ruth Belser Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert