Pflege und Behutsamkeit

Es geht in dieser Zeit vordringlich um die Wahl zwischen Beziehung/Nähe einerseits und Distanz/Entfremdung andererseits.

Beziehung/Nähe führt zu Vertrauen, Intimität und Gemeinschaft, Distanz/Entfremdung zu Vereinzelung, Isolation und Kontrolle.

Und was hat dies nun mit Pflege zu tun?
Pflege schafft Nähe und Beziehung. Die Pflege-Fachfrau -dies als ein Beispiel – die entgegen des neueren Usus, effizient mit Zeit umzugehen hat, sich trotzdem an das Bett des Patienten setzt, von dem sie fühlt, dass er/sie Nähe braucht, innerlich ganz bereit, ganz da, ihm/ihr mitfühlend zuzuhören. Vielleicht berührt sie ihn auch. Dieser Patient fühlt sich verstanden, wahrgenommen und er entspannt sich, was seiner Heilung förderlich ist.
Was seine Heilung wahrscheinlich mindestens ebenso fördert, wie die Medikamente, die er zu sich nehmen muss – das ist leicht einsehbar, aber weit, weit weg von der Realität.
Eine andere Pflegefrau fühlt sich vielleicht verpflichtet, streng die notwendigen medizinischen Verrichtungen exakt durchzuführen, die vor allem darin bestehen genau zu messen: das Fieber, den Puls, den Blutdruck, etc. und die vielen Geräte laufend zu überprüfen. Dadurch fühlt sich der/die Patient*in behandelt, aber nicht betreut, nicht wahrgenommen.

Einen Menschen, ein Ding oder einen Lebensbereich zu pflegen, führt zu Nähe und zu einer Vertiefung der Beziehung – und die Pflege führt meistens auch über Sinnlichkeit- , während Pflege und Intimität, die einem Roboter, einem chemischen Produkt und digitalen Geräten übergeben wird, zu Distanz und Entfremdung führt.

Pflege ist immer (oder fast immer) ein Akt der Sinnlichkeit und der Behutsamkeit. Pflege ist immer (oder fast immer) ein Akt der Sinnlichkeit und ein Akt der Hingabe. Beides.

Pflege schafft Nähe und Vertrauen durch Behutsamkeit und eine sinnliche  und atmosphärische Art von Zuwendung.

Gesamt-gesellschaftlich betrachtet wird die Nähe schaffende Pflege a) professionalisiert und weg-delegiert, oder b) zu einem technischen Produkt abgewertet.

  1. Beispiele: Insbesondere alle Arten von Zärtlichkeiten, die wir vermissen und doch nicht genügend eingehen können holen wir bei Masseur-innen nach und geniessen die vielen Wellness-Tempel. Statt den eigenen Garten zu pflegen, lassen wir es von Abwarten (mit grossen Maschinen) oder von Gärtnern erledigen. Wir lassen handwerkliche Arbeiten mehr und mehr durch Geräte und Roboter ausführen.
  2. Statt, dass wir persönliche Briefe von Hand schreiben, ev. sogar mit beigelegter Zeichnung, versenden wir vorgedruckte Karten per PC, gehen ins hoch-technisierte Kraft-Training und vermeiden Treppen- und Bergsteigen, etc.

Wir lassen uns so vieles, was uns berührt, aus den Händen nehmen: Selbst die Sexualität, die wir an Sex-Toys und Apparate abgeben oder an Filme, in denen wir sehen, was wir uns selbst verweigern oder nicht getrauen, körperlich-seelisch zu realisieren.

Wir essen Gemüse, das nie von einer Hand gesät oder geerntet worden ist.

Wir essen Fleisch von Tieren, welche nie gestreichelt worden sind.

Was wir aus der Hand geben, kann kaum mehr unser Herz berühren.

Die jetzt herrschend Kultur vermeidet mehr und mehr Nähe, verhindert Beziehung, Verbindung und Intimität. Sie schafft das Handwerk ab, die Handreichung, taktile Nähe und Zärtlichkeit. Sie erschwert es dem Menschen, sich zu erden, ein Erden-Mensch zu sein.

Pflege hingegen schafft Nähe und Beziehung. Wir nehmen die Samen in die Hand, die wir in die Erde geben, wie auch das Gemüse und die Blumen, die wir ernten. Wir reichen dem Leidenden die Hand, wir wachsen den Holzboden, auf dem wir gehen, schreiben den Brief an die Liebsten von Hand und wir umarmen die, die wir lieben, jeden Tag.

Wir pflegen unsere Seele, indem wir liebevolle nach innen schauen. Wir pflegen die Seele der Erde, indem wir mit der Erde sprechen, sie berühren, uns bei ihr für ihre Gaben bedanken. Zum Beispiel vor jedem Essen.

Spiritualität ist berührtes Leben, ist Behutsamkeit. 

Die drängenden weltweiten Probleme – wir kennen sie; ich brauche sie nicht aufzuzählen – können wir grundsätzlich auf zwei Arten, bzw. aus zwei Grundhaltungen heraus angehen:

Erstens: Durch die herkömmliche Art des Eingreifens mittels Strategie und technischer Mittel, alles rational durchdacht und kontrolliert, also die männliche Art des eingreifenden Durchsetzens (mit dem Macher-Instinkt) oder, zweitens, indem wir prozesshafte Lösungen miteinander, also im Gespräch und inter-aktiv entwickeln. Im Gespräch mit anderen Menschen und mit der Natur. Das ist der Weg der Beziehung, wozu die Pflege gehört.
Pflege schafft Beziehung, Nähe, Vertrauen. Nähe, die wir sinnlich erfahren.
Ich meine: zuerst die Behutsamkeit dem Leben gegenüber, dann erst Effizienz.

Natürlich wird die erste Weise der Problemlösung sehr einseitig vorwärts gepeitscht. Effizienz, Wachstum und rascher Erfolg sind die Zauberworte. Deshalb wird High-Technologie gefördert. Während die Angehörige aller Pflegeberufe schlecht bezahlt werden, unter Druck und Stress leiden, fliesst das Geld (insbesondere auch die Forschungsgelder) nach oben, zu den gut verdienenden Spezialisten, in die millionenschwere Technik, in die Landwirtschafts- und Gesundheits-Industrie.

Der weibliche Weg der Entwicklung ist es aber, der nun gewürdigt werden müsste, die Art liebevoll, behutsam und pflegend mit den anderen Lebewesen und der Erde zu kommunizieren. Wir brauchen jetzt Verbundenheit, die uns wärmt. Dringend.

Wir brauchen den liebevollen Weg nach unten, erdwärts.
Genauso, wie sich Reichtum nach unten verlagern müsste, hin zu den Armen und Benachteiligten, genau so müsste sich die Aufmerksamkeit verlagern: weg von den Erfolgskurven derer, die sie hochtreiben hin zu den Bereichen, wo Menschen mit Hand und Herz Beziehungen legen und pflegen. Dies scheint mir letztlich der Weg der Umverteilung und sogar des Überlebens zu sein. – Übertreibe ich?

Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Ich stelle nicht die Wichtigkeit der männlichen, linearen Strebungen in Frage, auch nicht die Technik an sich, sondern deren Vorherrschaft und Dominanz. Wenn das Gleichgewicht, die Harmonie der männlich-weiblichen Balance gestört ist (zu Ungunsten der weiblichen Kräfte), wie das heute erkennbar ist, so entstehen Risse und Zerfalls-Erscheinungen im ganzheitlichen Organismus Erde-Mensch, die heute nicht zu übersehen sind.
Was jetzt gehoben und gewürdigt werden will sind die runden, organischen Formen, das weiche, fliessende Zusammen-Spiel zwischen Menschen und zwischen Menschen und Natur, der Tanz des Lebens, Fürsorglichkeit und Pflege.

PS: Beim Durchlesen dieses Blog-Beitrages fallen mir die vielen Wiederholungen auf. Ich hatte offenbar das Bedürfnis, auf dasselbe wieder und wieder hinzuweisen.

2 Gedanken zu „Pflege und Behutsamkeit“

  1. Lieber Werner, vielen herzlichen Dank! Es ist genau diese achtsame, die anderen Lebewesen in ihrer Würde respektierende Haltung, die wir als Basis für jede Art von Widerstand gegen die ausbeuterische Gewohnheit, die uns der omnipräsente Kapitalismus einflösst, brauchen.

  2. Lieber Werner, vielen Dank für Dein neues Thema, das Du wieder mit viel Liebe und Engagement geschrieben hast. Der Kernsatz (für mich) : Spiritualität, berührtes Leben, ist Behut-samkeit, zeigt auf, worum es Dir geht.
    Fast zeitgleich bin ich auf einen Artikel über Bhutan gestossen, der über einen neuen Ansatz berichtet, wie dieses Dilemna angegangen werden kann. (Ich berichte über diese Artikel, weil er Vieles Deiner Themen einbezieht, weil die Figuren Würde ausstrahlen, weil er viel über Pflege und Achtsamkeit enthält und weil er mich sehr anspricht. Entschuldige die Länge.)
    Glücksminister, Weltbürger und ordinierter buddhistischer Lehrer Ha Vinh Tho sagt: „Mein Land macht ein mutiges Experiment.“ Er wurde 2011 in Bhutan Programmleiter des nationalen Glückszentrums, das der König des Landes, Jigme Singye Wangchuk, eingerichtet hatte. Dieser wurde 2005 im zarten Alter von 17 Jahren zum Vierten König Bhutans ernannt, weil sein Vater sich zur Ruhe gesetzt hatte. Der König, der nun den Kleinstaat am Himalaya in die Moderne führen und eine demokratisch konstitutionelle Verfassung durch-setzen wollte, wusste gemäss Ha Vinh Tho vor allem eines: dass er seinem Alter entsprechend eigentlich noch nichts weiss. Der junge Regent reiste zwei Jahre von Dorf zu Dorf, um sich die Nöte und Wünsche der bhutanischen Bevölkerung anzuhören. Er stellte fest, dass Arm, Reich, Jung und Alt nur eines wollten: glücklich sein.

    Es entstand die Idee, als Massstab für das Wohlbefinden das Bruttonationalglück zu bestimmen. (Bruttonationalglück statt Bruttoinlandprodukt!)

    Ha Vinh Tho besucht nun die Schweiz. Im Hörsaal der Uni St. Gallen ist kein Platz mehr frei. Alle wollen den Glücksminister sehen. Überall, wo er hingeht, sind die Hörsäle voll. Schon beim Handschlag spürt man, dass seine Kraft in der Ruhe liegt. Allerdings hat ihn nicht das Glück, sondern das Unglück zum Glücksminister werden lassen. Geprägt haben den in mehreren Ländern aufgewachsenen Psychologen und Pädagogen sieben Jahre in vielen Kriegsgebieten dieser Welt. Bei der Arbeit als Direktor beim Internationalen Roten Kreuz hat er in tiefste Abgründe geschaut. Diese Wahrnehmung des Leids hat dazu geführt, dass er sich stark fürs Glück
    interessierte.
    So spricht er zuerst übers Leid, das zum Einen mit der Ent-fremdung des Menschen von der Natur zu tun hat. Wer die Natur nicht kennt, wird sie auch nicht schützen und nichts beitragen zur Lösung der riesigen ökologischen Probleme. Zum Zweiten sind gerade in industrialisierten Ländern immer mehr Menschen unglücklich, weil sie einsam sind. Als Drittes nennt Ha Vinh Tho die wirtschaftliche Herausforderung. Nicht, weil zu wenig vorhanden ist, sondern weil der Reichtum ungleich verteilt ist.

    Glück hat mit der Qualität der Beziehungen zu Mitmenschen und der Natur zu tun. Mit Mitgefühl und dem Dienen (und der Hingabe) für andere. Fortschritt, Technologien und Wachstum sind nötig, aber dabei nicht Ziele, sondern nur Mittel, um das Glück der Bevölkerung zu steigern. Das Glück eines Landes basiert auf dem Wohlbefinden des Einzelnen. Und dieses hat nach Ha Vinh Tho im Alltag vor allem mit Achtsamkeit zu tun, mit Aufmerksamkeit gegenüber sich und den anderen. Achtsamkeit wirke sich sogar auf unsere Hirnplastizität aus.

    Achtsamkeit, Entspannung und Mitgefühl sind Glücks-Mecha-nismen, die allen helfen. Das nationale Glück in Bhutan sei eine Bewegung aus der Zivilgesellschaft heraus, die auf dem von der Regierung geschaffenen Rahmen und der inneren Verwandlung des einzelnen Menschen in Harmonie mit der Natur ruhen. Konkret ist Bhutan inzwischen nicht nur ein CO2-neutrales Land, sondern sogar ein CO2-negatives. Der Wald schluckt mehr Treibhausgase, als im Land produziert wird.
    So viel zum Bericht. Kein Märchen.

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