Innerer Halt – am Beispiel meines Vaters

Mein Vater, der strenge Mann, war innerlich verletzt: physisch durch seine chronische Herzkrankheit, seelisch durch seine Scheidung, die er als ausgesprochen schrecklich erlebte und sozial-beruflich durch sein berufliches Fiasko: er scheiterte als Geschäftsmann, als Erbfolger einer kleinen Textil-Fabrik. Ich war das vierte Kind seiner zweiten Ehe.
Gescheitert zwar, verletzt und verletzlich und gesundheitlich sehr gefährdet (er starb mit 59 Jahren; ich war knapp zwölf) war er doch ein Vorbild für mich, weil ich sah und erlebte, dass er von einer inneren Kraft getragen war.

„Er war ein hoch sensibler Mann. Ich suchte hinter seiner eisernen Strenge und Verschlossenheit seine zärtliche und spirituelle Seele, die spürbar, aber verborgen war.

„Sein Studierzimmer in unserer Wohnung war sein Reich. Dort lebt er. Wenn ich etwas wollte von ihm, so hatte ich anzuklopfen. Das kam nicht selten vor. Bevor ich anklopfe spürte ich heftiges Herzklopfen. Würde ich die Wand seiner Strenge und Diszipliniertheit durchdringen können, würde ich ihm begegnen oder an seiner Strenge abprallen?“
Zitat aus meinem Blog: „Männliche Lebenskraft, vom 24. Nov. 2018“

Ich erinnere mich: eines frühen Morgens -ich war unruhig, hatte schlecht geschlafen und geträumt – kam ich an die besagt Zimmertür meines Vaters, und ich glaube, dass ich sie ohne anzuklopfen geöffnet hatte – da sah ich meinen Vater knieend im Pyjama vor dem offenen Fenster knien, völlig versunken, trotz der Kälte im Zimmer. Offenbar kniete er schon lange, irgendwie entrückt in der Kälte, die in das Zimmer eingedrungen war. Stille erfüllt den Raum.
Nun erschrak er, als mich plötzlich wahrnahm. Er schnellte auf. Ich hatte ihn unterbrochen in seiner Andacht.
Es war mir intuitiv klar, dass sein Gebet//Kontemplation diese immense Stille hervorgebracht hatte und ich wusste nun, dass mein Vater aus einer inneren, geistigen Quelle schöpfte.

Eine weitere Erinnerung:
Täglich, vor dem Einschlafen, setzte sich mein Vater an mein Bett und betete mit mir das Vaterunser. Dabei legte er seine Hand auf meine Stirne. Seine Hand bewirkte ein kleines Licht auf meiner Stirne (am Ort des Dritten Auges. Ich schloss daraus, dass mein Vater Zugang zu seinem inneren Licht hatte und mir diese durch seine ruhige Hand mit-teilte.
Die klare Erinnerung daran, öffnete sich mir aber erst Jahre später.

Ich spürte also nicht nur seine erworbene, strenge Autorität, die er auf mich ausübte, sondern auch eine innere Kraft, also eine stille Autorität, die ihn selbst trug und die mir vermittelte, dass es eine Kraft und Präsenz gab, jenseits vordergründiger Macht und Erfolg. An diese konnte ich mich halten, lange über seinen frühen Tod hinaus – bis heute. Diese war sein Erbe an mich. Dafür bin ich dankbar.

Seine Tugenden, von denen er oft sprach und die er wahrhaftig lebte, waren: Würde und Bescheidenheit.
Alles an ihm strahlte Würde aus. Er ging und bewegte sich wie ein kranker König. Krank, aber doch König.
Ich nahm an ihm keine materiellen Ansprüche wahr. Er genoss auch einfachste Malzeiten. Seine Anzüge waren viele Jahre alt; an ihm wirkten sie wie neu.
Heute: In der verschwenderischen, ausbeuterischen Konsum-Gesellschaft in der wir leben, wäre Bescheidenheit wohl eine sehr stimmige Antwort auf die herrschenden Zustände, wie auch Würde, die gute Antwort wäre in einer Welt-Gesellschaft, die auf Propaganda, Manipulation und billige ideologische Beeinflussung setzt.

Ich frage mich, ob es viele Kinder und Jugendliche gibt, die zumindest in einem Elternteil eine tiefliegende Erfahrung spüren, also eine Tragkraft, die unabhängig von ihrem äussern Glück und Erfolg als innere Realität spürbar ist.

Kraft und Würde nahm ich deshalb bei meinem Vater wahr, weil er die Verbindung mit seiner Innenwelt trotz Problemen nicht abbrach. Die Macht und die Niederlagen im Aussen hatte keine Chance seine Würde zu brechen.

Darin erlebe ich bewundernswerte Stärke.

Bei vielen Menschen spüre ich, dass sie leicht hin und her zu stossen sind, weil sie keinen Rückhalt haben und bewusst auch keinen Halt zu suchen scheinen, weil sie offenbar annehmen, dass es keine höhere Realitäten zu finden gäbe und/oder gelernt haben, derartige Ahnungen schon im Entstehen in sich abzuwerten.
Ich glaube, dass es gesellschaftliche Abwehr-Strategien gibt, welche die Bildung von höheren Bewusstseinsebenen verhindern oder zumindest sehr erschweren.
Es erscheint mir als hilfreich, wenn Menschen lernen, solche Mechanismen (zum Beispiel Abwertungen), die inneres Wachstum verhindern oder erschweren, zu erkennen, denn eine Weltgesellschaft, die kaum fähig ist, bei ihren Mitgliedern innere Stärke aufzubauen und/oder zu fördern, ist manipulierbar und verführbar.
Abwehr-Strukturen, welche die Bewusstwerdung verhindern, können meditativ geortet, gefunden und zum Beispiel durch sakrale Gesänge oder Mantras überwunden werden.

Mein Vater hatte offensichtlich den Willen, sich von seiner Seelenkraft leiten zu lassen. Für sein Vermächtnis bin ich dankbar.

2 Gedanken zu „Innerer Halt – am Beispiel meines Vaters“

  1. Lieber Werner

    Danke für Dein unermüdliches Schreiben. Deine Beiträge berühren mich jedesmal. Auch die letzten vier Beiträge. Was Du schreibst, spricht mich sehr an und erwärmt mein Herz. Du scheinst unerschöpflich zu sein.
    Dein neues Thema: Innerer Halt – am Beispiel meines Vaters. Für mich ergreifend! Ich habe Deinen Vater echt in mein Herz geschlossen. Du vermittelst einige starke Bilder: Dein strenger Vater kniend vor dem geöffneten Fenster … die Stille … Dein Vater setzt sich Abend für Abend an Dein Bett und betet mit Dir das Vaterunser … legt dabei seine Hand auf deine Stirn … das kleine Licht auf Deiner Stirn …

    Was kann es Schöneres geben?!

    Herzlich
    Doris (unfreiwillig in Quarantäne)

  2. Danke, lieber Werner! Was eine biographische Reflexion alles mitbringt! Sehr eindrücklich und anregend, um über Wesenszüge meiner eigenen Eltern nachzudenken. Herzliche Grüsse, Christoph

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