Heute Abend

Heute Abend gare ich Fenchel, brate Kartoffeln und mache mir dazu eine Käserahm-Sauce mit Paprika und verschiedenen anderen Gewürzen.

Ich bin zufrieden mit dem Resultat. Langsam esse ich an meinem Platz am Fenster, alleine, wie oft und beobachtete den rollenden Abendverkehr auf der nahen Oltener-Strasse hinter der Tankstelle. Viele Lichter, wie aufgereiht. Der Verkehr zwischen Rollen und Stau.

Die Zeit des Einnachtens macht mich oft melancholisch. Gut gibt es Wein. Der Tropfen heute ist superb. Der diesjährige Januar ist mild wie selten. Ich geniesse die jetzigen nebelfreien Tage, mache Spaziergänge, der Sonne wegen.

Dann tänzle ich in die Stube im Rhythmus des swingenden Jazz. Ich höre «Jazz for dinner» am Radio Swiss Jazz, stelle es dann ab, setze mich auf das schwarze Ledersofa, mit dem Buch «Spirituelle Ökologie» in der Hand, schlage es auf und lese:

«Manchmal sind wir so dringend davon überzeugt, dass die Welt gerettet werden muss, dass wir uns zwingen, tagein, tagaus an der Rettung unseres Planeten zu arbeiten. Infolge dieser Sichtweise vernachlässigen wir unser eigenes Wohlbefinden, um schliesslich unter Burnout, Depressionen, Ehescheidungen und Desillusionierung zu leiden.

Deshalb lehrt uns die Gita, dass es nicht nötig ist, die Sorge um den Erdboden von der Sorge für die Seele zu trennen. Wir müssen beides tun… was bedeutet, sich Zeit für innere Reinheit, Meditation, Spiritualität und ein Leben in eleganter Einfachheit zu nehmen.»*

Am Ausdruck «elegante Einfachheit» bleibe ich hängen.
In einer Gesprächsgruppe, nannte ein Mann, als wir von spirituellen Tugenden sprachen, «Eleganz» als eine der spirituellen Tugenden. Ich horchte auf: wie bitte? – und spürte gleichzeitig, dass er recht hatte mit dieser Nennung.

Eleganz heisst, gemäss Duden: «Vornehmheit» in Bezug auf die äussere Erscheinung, elegantes Aussehen; Gewandtheit, Geschmeidigkeit in der Bewegung, sowie kultivierte, elegante Form und Beschaffenheit.
Der Autor des Artikels (Satish Kumar) bringt den Begriff Eleganz in Zusammenhang mit Einfachheit: ein Leben in eleganter Einfachheit.

Ich erinnere mich an meinen Aufenthalt in Senegal, vor vielen Jahren. Ich sehe, wenn ich an die Menschen dort denke, viele einfache, oft arme Personen, die in Würde dahin schlendern, in fast königlicher, schlichter Eleganz, oft bekleidet mit einem einfachen, langen, bunten Kleid. Insbesondere erinnere ich mich an ihre lockeren Handgelenke, an ihre Arme, die an Flügel erinnern, an ihre Geschmeidigkeit in der Bewegung und an ihr breites vergnügtes Lachen.

Die einfache Eleganz ist von innen getragen, wie auch die Bewegungen, die aus dem Sein auftauchen. Kein Luxus: es ist eine Art von innerer, schlichter Schönheit, die aus dem Herzen kommt, eine Geschmeidigkeit, wie es Verliebte an den Tag legen. Es sind beseelte Formen, die von der Stille zeugen, aus er sie kommen. Tanz also, Lebenstanz, Zelebration. Das Tänzeln nach dem Abendessen, das plötzliche Hüpfen auf dem Parkplatz wie von Zauberhand berührt. Ja: Eleganz: aus dankbarem Leben, gestaltet in Poesie.

Wo bleiben dann die schweren, ernsten Schritte gebückter Menschen in den vielen Strassen und Gassen vieler dunkler, schweren Städte und Dörfer? Ich höre sie von Weitem. In sich zusammengefallenes Leben, welches auf Trost wartet.

Unter diesen schweren Schritten höre ich auch die meinen, dem alten Mann, der ich bin. Ich sehe aber auch seine Tanz-Schritte, anmutig, vielleicht nicht von aussen betrachtet, aber von innen gefühlt, denn sie kommen aus der unvergänglichen, ein-fachen, zeitlosen Seele.

Noch einmal schlage ich das Buch auf: «Wir müssen die Fürsorge für die Seele als Teil der Fürsorge für die Erde betrachten.»

Heute Abend gehe ich früh ins Bett. Ich gehe durch die Wohnung, räume das Gröbste auf, trage die Teller in die Küche, lüfte kurz, nehme meine Globuli ein (Placebo würden einige sagen), putze die Zähne, nicke, lege mich nieder.

*aus dem Artikel: Die drei Dimensionen der Ökologie: «Erdboden, Seele und Gesellschaft» von Satish Kumar, aus «Spirituelle Ökologie» – Der Ruf der Erde. Verlag Neue Erde.

 

 

Eine Kultur der Zärtlichkeit Teil 2

Im ersten Teil dieses zweiteiligen Blog-Beitrages äusserte ich mich primär zu den psychologischen und erdnahen Aspekten der Zärtlichkeit. Im zweiten Teil betone ich die spirituelle Seite dieser Wachstumskraft und stelle einen Bezug zu Weihnachten her.

Im Kommentar zum letzten gleichnamigen Artikel machte mich Christoph Albrecht, SJ, auf eine Text-Passage von Kurt Marti* aufmerksam, die mich aufhorchen liess und zu einem fast hörbaren «Ja, so ist es» stiess.

Hier das Zitat:

„Die vollkommene Aufmerksamkeit
Worauf weisen die Begriffe Allgegenwart und Allwissenheit Gottes hin? Vielleicht auf jene universelle, vollkommene Aufmerksamkeit, wie sie altrussische Ikonen als „das nichtschlafende Auge Gottes“ dargestellt haben. Diese universelle, zugleich engagierte Aufmerksamkeit ist weder als Auge des Weltgesetzes noch als das eines „Kosmopolizisten“ (Jan Milič Lochmann), vielmehr als vollendete Zärtlichkeit zu denken: Zärtlichkeit als intensivste Form der Aufmerksamkeit.“

Das leuchtet mir ein; es entspricht meiner inneren Erfahrung: Die Zärtlichkeit als intensivste Form der Aufmerksamkeit.
Ich erfahre Zärtlichkeit auch als eine Schicht der all-gegenwärtigen, universellen Barmherzigkeit.
In der Sphäre der Zärtlichkeit wirkt Trost und Heilung.

Wenn wir uns – zum Beispiel in einer Meditation/Kontemplation – betrachten lassen, so nehmen wir wahr, dass das göttliche Lichtauge, das ev. an eine Sonne erinnert, uns schaut und erschaut, vollkommen zärtlich, liebevoll und tröstlich. So wird es auch in vielen Berichten von Nahtod-Erfahrungen gesagt (die sich manchmal tiefen mediativen-kontemplativen Erfahrungen sehr ähnlich sind), dass eine Lichtwesenheit mit der betreffenden Person in einen Herzens-Dialog eintritt, indem sich die Betroffene oder der Betroffene völlig aufgehoben und geliebt fühlt. Es ist zärtliches Licht, das auch an das Lächeln von Buddha erinnert.
Die Begegnung mit Licht-Wesen verdichtet sich manchmal zu der Frage hin: Bin ich es selbst, der mir begegnet, also mein inneres Licht-Wesen, das in mir angelegt ist?

Dieses zärtliche Licht, so will ich es nun nennen, ist vollendete Aufmerksamkeit, vollendete Präsenz und Zugewandtheit. Es ist erfahrbar, dass es ein Zuhörendes und Anteilnehmendes in allem gibt, was ist.

Sie ist, wie im ersten Artikel schon gesagt, der Boden auf dem wir stehen und die Atmosphäre in der wir wachsen und gedeihen und uns beheimatet fühlen.

Es ist bemerkenswert, dass in kirchlichen und theologischen Kreisen eher selten von Zärtlichkeit gesprochen wird und ich frage mich, warum das so ist. Ist es vielleicht die patriarchalische Prägung dieser Kreise?

Weit öfter findet im Bereich der Mystik die Erfahrung von Zärtlichkeit Ausdruck, so etwa bei Johannes vom Kreuz. Ich zitiere hier zwei Strophen seines wunderbaren Gedichtes aus die Lebendige Liebesflamme **:

„O Flamme, von Liebe lebendig,
die du zärtlich verwundest
meine Seele in tiefster Mitte!
Da du nicht mehr quälend bist,
komm schon ans End‘, wenn’s dir gefällt;
zerreiss den Schleier zur süssen Begegnung!

Wie sanft und liebkosend
erwachst du in meinem Schoss,
wo du allein insgeheim wohnest!
Und in deinem köstlichen Hauch
von Gutem und Herrlichkeit voll,
wie zartkosend machst du mich verliebt!“

Dies ist eine Beschreibung der mystischen Weihnachten.

Zärtlichkeit ist sowohl ein Bewusstseins-Zustand, wie auch ein Gefühl und ein wundervoller Ausfluss bedingungsloser LIEBE.
Die Erfahrung von reiner Zärtlichkeit ist Grund-legend. Sie hat nichts zu tun mit falscher, sentimentaler Süsse, kitschiger Peinlichkeit oder einer hübschen Fassade.

Sie ist Ausdruck einer umfassenden Intimität, die durch Empathie und Nähe entsteht, in einem non-dualen Dialog, der die Einheit allen Lebens atmet.

*

Zärtlichkeit ist erstens eine fundamentale Kraft, die uns Menschen erdet, sowohl in unserm Körper, wie auch auf Mutter Erde. Sie ist die Kraft, die uns hier wachsen lässt, mütterliches Fluidum;

und zweitens: sie ist ebenso die Kraft, die uns mit der geistigen Welt verbindet, die uns zu Anteilnehmenden und Zugehörigen werden lässt,

und drittens ist Zärtlichkeit die Kraft, die eine Brücke bildet zwischen der Erden-Welt und der Geist-Welt, aus der wir kommen und wohin wir gehen.
Sie verbindet Himmel und Erde, die physische Welt mit der geistigen Welt.

Die Kraft der Zärtlichkeit wirkt all-gegenwärtig im Universum, wie auch auf Erden. Hier aber ist sie bedeckt von einer verwundeten und zum Teil abgestorbenen Oberfläche. Die darunter liegende Zärtlichkeit und die damit verbundene Heilkraft können wir bewusst einatmend befreien und sie ausatmend einer werdenden Kultur zärtlichen Erdenlebens zukommen lassen.
Dies ist wohl die wahre Weise, Weihnachten zu feiern.

 

*Kurt Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, Darmstadt 81. Vergriffen.
**Johannes vom Kreuz:  Die lebendige Liebesflamme, Herder TB 5049

 

 

Weltschmerz

Wie viele meiner Freundinnen und Freunde kenne auch ich die Empfindung von Schmerz, wenn ich mir den Zustand der Erde vergegenwärtige: Schmerz, eng verbunden mit Trauer, die mich manchmal zu überwältigen droht.
Dies schon seit Jahrzehnten. Viele sind sich darin einig, dass sich die Menschheit in einer sehr schwierigen und schmerzvollen Krise befindet, die vielleicht einen Übergang in eine höher Bewusstseinsphase anzeigt. Mit dem Bewusstsein, welches zu den vielen Fehlentwicklungen dieser Zeit geführt hat, können die Fehl-Haltungen nicht korrigiert werden. Es braucht ein anderes Bewusstsein, eine andere Lebens-Grundlage, die wir vielleicht mit Weisheit oder Herzens-Intelligenz umschreiben können.
Der Weltschmerz verweist auf das leidende, verkümmerte, vergessene und/oder gequälte Leben hin.
Ein Beispiel: Europa nimmt es hin, das seit Jahrzehnten Jahr für Jahr viele Hunderte oder Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Europa will sie nicht haben. Menschen, die dem nicht zu sehen wollen, die helfen, werden verhaftet.
Wir haben gelernt unseren Schmerz und unsere Trauer weitgehend zu betäuben. Eine mächtige Betäubungsmittel-Industrie «unterstützt» uns dabei. Fast-Food  und Drogen gegen den Schmerz. Hektik, Stress, Ultra-Mobilität, Konsum gegen den Schmerz. Wir sind eine Schmerz-Abwehr-Gesellschaft.

Doch der verdrängte, abgewehrte, verleugnete Schmerz sucht Herzen, die ihn aufnehmen. Das ist immer so: Schmerz will gehört und wahrgenommen werden. Abgelehnte Kinder, aber auch Erwachsene unternehmen alles, um endlich ernst genommen, gehört und verstanden zu werden.

Ein Arzt in einer psycho-somatischen Klinik, so lass ich, wurde von seinen Mitarbeiterinnen gerufen, weil da eine Patientin ununterbrochen, seit Stunden, schreie. Durch nichts war sie zu stoppen. Der erfahrene Psychiater setzte sich an das Bett der Frau und lauschte. Voller Aufmerksamkeit versuchte er die Schreie dieser Frau zu verstehen. Er hörte, hörte mit grossen Ohren zu, war nur noch Gehör, über eine sehr lange Zeit, ohne die Frau je zu unterbrechen. Dann sagte er nach langer Zeit: Wir haben sie nun verstanden; sie können jetzt aufhören. Die Frau hörte auf zu schreien.

Ich habe mich gefragt, wie ich mit dem Weltschmerz umgehe und wie meine Freunde und Freundinnen damit umgehen.
Nicht Wenige verwandeln ihren Schmerz in Arbeit, indem sie sich für Benachteiligte einsetzen, für die Natur, für gepeinigte Tiere, im weitesten Sinne ein Engagement eingehen, das Leiden lindert und Gerechtigkeit stärkt. Sie bewegen sich oft im Bereich der Sozialen Arbeit oder der Politik. Mir scheint dieser Weg konstruktiv und hilfreich zu sein.

Der Dalai Lama sagte, dass Mitgefühl die Quelle der Glückseligkeit sei.

Tatsächlich finden sich unter den so Engagierten mehr heitere Menschen, als unter den Resignierten.
Bei dieser Gruppe von Menschen -den Engagierten- neigen nicht Wenige dazu, sich zu überfordernd bis hin zur Erschöpfung oder ernsthaften Krankheiten. Wahrscheinlich gehörte ich selbst dieser Gruppe an.

Andere wählen den Weg der Kontemplation und der Meditation. Sie suchen den inneren Frieden, Liebe und Wahrheit. Sie gehen davon aus, dass nur aus einem Zustand der inneren Stille und Gelassenheit Friede und Heilung für die Welt ausströmen kann, Kraft zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes.
Mit dieser Überlegung haben sie recht. Aber sie vergessen manchmal, dass Einsichten und innere Erfahrungen nur durch Taten geerdet werden können.

Eine dritte Gruppe, die einen konstruktiven Weg aus der Erfahrung des Schmerzes gehen, sind jene Menschen, die ein zukunftsträchtiges Modell für eine nachhaltige, liebevolle Welt in Gemeinschaft erarbeiten wollen. Sie bilden neue Wohn- und Arbeitsgemeinschaften, gründen Netzwerke oder erarbeiten ganzheitliche pädagogische Schulkonzepte; sie bauen Bildungsstätten auf, oder sie geben ihre Kraft in die Erziehung ihrer Kinder, in der Absicht ihnen Bedingungen zu schaffen, die der freien Entfaltung ihrer Gaben und ihrer Menschlichkeit dienen.

Schliesslich möchte ich noch eine vierte Gruppe erwähnen: die der KämpferInnen für eine gerechte Welt und für Strukturen, die dem Frieden unter den Völkern dienen. Es sind Kämpfer*innen aus Mitgefühl, vielleicht auch aus Zorn, nicht aber aus Hass. Sie verwandeln den Schmerz in Kraft und Tatkraft. Sie sind mutig, manchmal bis zur Selbstgefährdung.

Viele Menschen sind in zwei oder mehrerer dieser skizzierten Gruppen tätig. Ich meine, dass sie sich bestens ergänzen. Alle diese Ansätze, die aus dem Weltschmerz und dem daraus hervorgegangenen Mitgefühl geboren worden sind, sind meiner Meinung nach zu respektieren und zu schätzen.

Am Anspruch gemessen, eine neue, gute Welt zu kreieren, eine Welt, in der die Wunden weitgehend heilen, werden vielleicht alle genannten Gruppen der engagierten Menschen teilweise oder weitgehend scheitern. Vielleicht werden sie, global betrachtet, das verbreitete Leiden aufgrund globaler Zerstörungsprozesse nur ein bisschen lindern können, was aber kein Grund darstellt, die Bemühungen für das Gute einzustellen. Geläuterte Engagierte orientieren sich nicht mehr am Erfolg. Sie lassen sich einfach von ihrem Herzen leiten.

Ein zu rasches Eingreifen, ein schnelles Tun, so gut die Absicht auch immer sein mag, verhindert jene wichtige Phase des reinen Zuhörens, des Lauschens, des tiefen Verstehens des Schmerzes der Welt – so wie jener Psychiater, der die Schreie jener Patientin einfach an sich herankommen liess, ohne Massnahmen zu ergreifen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: jene Handlungsweisen, die ich oben beschrieben habe, sind zweifellos sinnvoll und hilfreich, doch -und dies möchte ich hier betonen- sollten sie jene Phase des reinen Zuhörens nicht verhindern oder abkürzen. – Weshalb?

Wenn Menschen mit einem offenen Herzen, das auch mit dem Herzen der Welt verbunden ist, zuhören, findet der abgespaltene Schmerz, das vergessene Leiden zurück in das Leben, in das Sein des Welten- und des Menschheits-Körpers. Die Verbindung des abgetrennten Schmerzkörpers mit dem Herzen der Welt, mit deinem und meinem Herzen, wird dadurch hergestellt. Das, was aus dem Ganzen herausfiel, kann so reintegriert werden.

Beim Prozess der Verlebendigung ist auch die mitfühlende Trauer von Bedeutung. In meinem Blog “Unsere aufgeschreckten Seelen“ (13. Juli 19) schrieb ich:

„Das lebendige Bewegt-Sein unserer licht-durchlässigen Trauer (ja, die gibt es) kann die Entfremdung von unserem eigenen Leben und der eigenen Lebenskraft beenden. Diese weiche Trauer, die sich im Herzen bildet und Licht freisetzt, ist heilend. Dabei werden auch weibliche Qualitäten wiederbelebt. Transformation bleibt niemals im Kopf begrenzt! Es ist ein Abstieg in die Tiefe der Seele, die uns erhebt, damit wir Neues schaffen können“.

Das offene Ohr bietet Hör-Raum; es ist eine Art von Gebärmutter. Darin kann sich das Bedürftige, das zuvor keinen Platz hatte, aufrichten und aufatmen. Somit löst sich der Schmerz, findet der Traurige, die Traurige Trost.

Aber haben wir denn die Stärke, dem Schmerz der Welt -der Mutter Erde- in uns Raum zu geben? Müssen wir uns nicht davor schützen? Uns schützen vor seiner ungeheuren Wucht?

Ich glaube, dass wir die Wucht des Schmerzes dann ertragen, wenn wir mit der LIEBE, aus der das Mitgefühl quillt, verbunden sind. Wenn wir uns also an die LIEBE wenden, aus der wir leben, wird uns die Kraft gegeben, Schmerz in Leben zu verwandeln.

Das ist zweifellos keine leichte Aufgabe, aber sie hilft uns auf dem Weg zum Menschsein.

Schmerz scheint mir vorwiegend die Folge von Trennung zu sein, insbesondere die Trennung von uns selbst. Mitfühlendes Hören erlaubt die Rückkehr dessen, was abgespalten war. Wiedervereinigung ist die glückliche Folge.

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Vergleiche auch den Blog-Beitrag: «Der Weltschmerz und die Samen des Guten» vom 28. Dez. 2018.

Beitragsbild: Farbstift-Zeichnung von Werner Binder

 

Im Seins-Raum

Manchmal ist es mir ein Bedürfnis innere Erfahrungen weiterzugeben, zu teilen. Bevor ich sie in Worte fasse, überprüfe ich das Erkannte im Innern, ob das, was sich formulieren möchte, tatsächlich dem entspricht, was ich innerlich erlebe und erfahre. Wenn keine Übereinstimmung vorliegt, gelangt es in keinen Text.
In welchem Masse meine innere Wahrheit auf andere Menschen übertragbar ist und wie weit sie verallgemeinert werden kann, kann ich nicht beurteilen.

Ich lebe im Seins-Raum. Es ist mein wahres Wesen, welches im Seins-Raum lebt. Dieser Raum ist sowohl leicht, wie auch dicht. Hier bin ich von Wesenheiten umgeben. Hier bin ich ganz, während ich mich im Raum der Alltags-Erdenwelt als sehr relativ und vergänglich erlebe.

Im Seins-Raum ist meine Heimat.
Er ist völlig beseelt.
Hier dehnen sich alle meine Dimensionen, die zu mir gehören, aus. Ich weite (erweitere) mich da. Alles ist gut bis in die Tiefe des Seins.

Seins-Tiefe: ganz unten die Grund-Strömungen der Lebenskraft, in der Höhe lobende Wesen in ihrem Liebestanz.

In der Versenkung, zum Beispiel in der Meditation oder im kontemplativen Gebet, manchmal auch in psychotherapeutischer Körper-Arbeit, verändert sich das Zeit- und Raumempfinden:
Zeit erlebe ich als Gegenwärtigkeit, ich spüre sie als nährende und schöpferische Essenz.

Raum dehnt sich; er ist grenzenlos, leicht und dicht zugleich. Eine schimmernde Sphäre. Das Wesen (Ich) und der mich umgebene Seins-Raum unterscheiden sich nur graduell. Der Seins-Raum ist auch in mir, so wie er mich umgibt. Alles ist wechselseitig verbunden, es gibt da keine isolierten Einzelteile.
Der Raum atmet, pulsiert. Hier ist keine Schwerkraft, sondern eher ein Gleiten, ein Schweben.
Verweile ich im Seins-Raum, der auch ein Bewusstseins-Raum ist, erfahre ich seine intensive Lichtkraft immer mehr (vergleiche den letzten Blog: Licht und Bewegung). Das Gefühl: Ich bin aufgehoben, beheimatet. Hier bin ich wirklich, hier bin ich real. LIEBE und all-gegenwärtige Schönheit, die alles durchströmt. Alles ist hier in LIEBE gesehen und in LIEBE gehört. Anteilnehmendes Leben.

Der innere Mensch, der ins Licht der Wahrnehmung tritt – ich nenne ihn auch das Wesen – ist, so spüre ich das deutlich, real, anwesend, während der von der Zivilisation und der herrschenden Kultur geprägte Mensch grosse illusionäre Anteile (Maya) an sich hat. Manchmal erscheint er als abwesend, unsichtbar. Im Seins-Raum ist Anwesenheit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Seligkeit.

Wenn du, wenn ich, aus diesem Seins-Raum liebevoll mit Mitgefühl ausatmen, können wir das bedrohte Leben auf Erden unterstützen und nähren. Es ist eine Art von stiller Friedensarbeit, die aktive handfeste Friedensarbeit nicht ausschliesst, sondern vielmehr stärkt.

Die Blume: Sinnbild für die menschliche Entfaltung

Die Blume:
In ihrem Samen ist sie schon entworfen.
In der warmen und feuchten Erde entfaltet der Samen seine Lichtkraft –
bricht auf, bildet haarfeine Wurzeln in Richtung
Erd-Mittelpunkt, wie alle andern Pflanzen auch,
nach oben quilt der Keimling, winzig, zart.
Dann schiesst der Stängel empor, seitlich breiten sich Blätter aus.

Danach bildet sich am oberen Ende des Stängels eine Knospe aus.
Zuerst ist sie winzig, wird dann breit und voll, scheint zu drängen,
zeigt: etwas will sich öffnen, hervortreten;
alles zuvor war Vorbereitung für das, was sich nun entfalten möchte.
Unterdessen wird der Stil dicker, die Blätter vermehren sich, werden grösser.
Hochschwanger ist nun die Knospe. Wann bricht sie auf?
Das Herz, unruhig, bis es sich endlich in der Offenlegung entspannen darf.
Die Blüte mag es, im Morgengrauen aufzugehen.
Ein Farbschimmer dringt durch.
Nun scheint sie zu explodieren.
Die Blüte entfaltet sich: die Blütenkrone
Ihr Sitz in den Kelchblättern. Festlich.
Die Blüte hauchfein, in leuchtender Farbe.
Erblühendes Menschsein, verströmende Essenz.
Sich erlösende Sehnsucht.

Erst jetzt, da die Blume gross und stark ist,
wagt sie es, ihre Feinheit und Zartheit zu offenbaren.
Erst jetzt, wenn der Mensch eingewurzelt ist, Stärke aufgebaut hat,
ist es ihm möglich, sich zart und verletzlich zu zeigen.
Die Essenz des Wesens, hauchfein, vibriert,
fängt zu Singen an –
und das Singen wird Licht.
Lichtgesang,
Wesens-Duft.
Mit dem Duft erweitert sich die Kommunikation der Pflanze,
die nun in Verbindung tritt zu Insekten und Vögeln und zum Wind.
So auch der Mensch,
der nun auch bewusst Zugang zu subtilen Wesen finden kann,
weil er seine Wesens-Substanz nun ausatmend verströmen lässt.

Jede Blume ist eine Nuance und ein Ausdruck des Schöpfungsganzen:
ihre Form, ihre Struktur, ihre Farbe und ihr Duft
lassen uns erahnen, wofür sie geschaffen ist.
Jeder Mensch ist eine Nuance und ein Ausdruck des Schöpfungsganzen:
seine Form, seine Struktur, seine Farbe und sein Duft
lassen uns erahnen, wofür er geschaffen ist.
Gleichzeitig verweist das Ätherlicht und der Duft der Blume und des Menschen,
man kann es fühlen,
auf jene Seins-Ebene,
welche die Welt der Formen übersteigt.

Der Mensch gebiert das,
was ihn selbst transzendiert,
was ihn in seinem biografischen Person-Sein übersteigt.
Er ist sich Mutter und Vater
für das göttliche Kind, das in ihm erblüht –
sein Wesen.
Die Blume und ihr Duft redet zu uns über das Mysterium der Verwandlung.

Dann, wenn die Blume,
das Herz, erblüht ist,
bilden sich die Samen kommenden Lebens,
reifen die Früchte des Lebens heran.

———

Meditiere wie eine Mohnblume,
sagte der Starez Séraphim* zu seinem Schüler:
«Diese Ausrichtung auf das Schöne, auf das Licht, liess ihn manchmal rot werden
wie eine Mohnblüte, wie wenn das Schöne Licht ihn lächelnd anblicken würde in Erwartung seines Duftes. Vom Mohn lernte er auch, dass eine Blume einen festen, geraden Stängel braucht, um in der Richtung zum Licht zu bleiben…
Meditieren heisst die Ewigkeit im Vergehen des Ausgenblickes zu erkennen..»

*Jean-Yves Leloup: Das Herzensgebet – nach Starez Séraphim vom Berg Athos.
© by Neumühle, D-66693 Mettlach-Tünsdorf/Saar

 

 

 

Das Empfangende

Ich stelle mir vor, dass der Mensch ein empfangendes Wesen ist, der hier auf Erden berufen ist, sich selbst in seiner Wesenheit zu empfangen, sich in seiner Empfänglichkeit zu erleben und damit sich selbst (wieder) zu finden.

Vor Gott sind wir alle weiblich, sind wir Empfangende.

Der empfängliche Mensch ist verliebt und hingebungsvoll; er gibt sich dem Gebenden, dem Liebenden hin – vorbehaltlos, vertrauend. – Er ist ein offenes Gefäss, an eine Schale oder an einen Kelch erinnernd. Er empfängt, trinkt dankbar, was ihm gegeben wird. Alles an ihm ist aufnehmend, rezeptiv: Sein Körper, dessen Poren weit geöffnet sind, seine Aura, zart und empfangend, seine Seele, ein seiden-leuchtendes Energiefeld, welches das grosse göttliche Licht einatmet.

Es ist nicht leicht zu sagen, ob das Empfangende nun eher passiv oder aktiv ist. Ich würde sagen: passiv-aktiv. Die Pflanze, die sich dem Licht entgegenreckt ist aktiv, passiv in ihrer Licht-Trunkenheit. – Der Mensch der sich sehnsüchtig dem Licht entgegenstreckt, sich damit aufrichtet und dabei doch gelöst bleibt, stellt das männliche Prinzip dar, das Weibliche ist das rezeptiv Empfangende, die aufnehmende Schale (die Seele), die Kraft der Verkörperung und Integration. Die beiden Qualitäten bilden die Yin-Yang-Balance, eine Ganzheit, die der Meditation sehr förderlich ist.

Da der Mensch in unserer Zivilisation sich gegen Überreizung und Erwartungsdruck schützt, gezwungenermassen, hat er sich eine dicke Schutzschicht zugelegt. Die Meditation hilft ihm, diese Schicht aufzulockern, wieder transparenter zu werden, damit er sich wieder in Beziehung mit dem setzt, was ihn seelisch-geistig nährt. In der Meditation geht es, wie auch im Gebet, darum, wieder in Resonanz zu jener Substanz zu finden, aus welcher der Mensch lebt.
Wir Menschen sind – so könnte man es sehen- Gegebenes, das sich verkörpert, also verkörperte Liebe.

Es braucht Mut, sich wieder zu öffnen, sich verletzlich zu machen und Kontrolle aufzugeben, um jenen lichten Stoff, die Substanz, die sehr fein ist und aus der wir sind, wieder zu spüren. Erfahren wir sie, können wir die göttliche Substanz bewusst und dankbar empfangen, uns selbst in unserer tiefen Wirklichkeit aufnehmen, um uns selbst zu verkörpern, zu werden, was wir in innerster Essenz sind. Es ist ein Geburts-Vorgang.

Bevor dies geschieht können wir festhalten: Was wir bisher durch unsere Erziehung und durch unsere Kultur verkörpert haben, hat viel mit den Ängsten und der Gier der Zivilisationswelt zu tun gehabt. Nun, wo wir uns neu nach dem wahren Selbst ausrichten, empfangen wir unser Wesen, das bisher verdeckt war. Bis es soweit ist, kommen wir nicht darum herum, unsere Empfänglichkeit zu entwickeln. Wir haben unsere Wahrnehmungsfähigkeit zu verfeinern. Wir haben zu lernen, auszuatmen, was uns hindert frei zu sein und frei zu empfinden.
Bei der Verfeinerung unserer Wahrnehmungsfähigkeit kommt die Phase, wo wir meinen, dass nichts da sei und manchmal brechen wir dann die Ein-Sicht ab. Dieses «Nichts» markiert oft den Beginn einströmender Fülle, die wir erst als das erkennen, was sie ist, wenn unser Innenleben jene Feinheit und Zartheit erreicht hat, die nötig ist, die subtile Welt zu empfangen.
Es kann aber auch passieren, dass uns einfach geholfen wird, dass hinweggenommen wird, was uns beschränkt.
In jenen wunderbaren Augenblicken oder Perioden, wo wir offen, empfänglich und hingebungsvoll sind, können wir erfahren, dass uns unterbrochen gegeben wird. Wir nennen diese Erfahrung auch Gnade. Die einströmende Gnade, der einfliessende Segen, erleben wir manchmal als weissliches-milchiges und nährendes Licht, andere Male als unglaublich feine kristalline Licht-Partikel, die sanft über uns kommen oder als hauchfeiner Licht-Sprüh-Regen, der uns beglückt. Diese Bilderfahrungen sind verbunden und eins mit der Empfindung von Glückseligkeit, mit Erstaunen, Ergriffenheit. Oft stellt sich ein Gefühl von Festlichkeit und Feierlichkeit ein. In solchen Momenten wird uns bewusst, dass dieses Einströmen von Güte, Liebe und Bewusstheit unendlich (also nie endend) ist und dass alles Geschenk ist. Fülle.

Natürlich sind diese oben genannten Empfindungsweisen nur Hinweise, wie sich göttliche Substanz, die wir empfangen, anfühlen kann. Jeder Mensch, empfängt vor allem jene Qualitäten, die er jetzt besonders benötigt und er empfängt sie in dem Masse, wie er in der Lage ist, sie aufzunehmen und zu integrieren. Ein starkes Gefäss vermag mehr aufzunehmen, als ein schwaches. Deshalb gilt es innere Seelenstärke, aber auch körperliche Harmonie zu entwickeln. Ausserdem erscheint es mir als sehr wichtig zu sein, liebevolles Einatmen einzuüben.

Was wir empfangen ist Liebe und das, was aus ihr geboren wird – Leben, wir selbst.

Da wir nicht nur individuelle Wesen sind, sondern auch Erden-Menschen, ist es auch Teil unserer Menschen-Verantwortung, das Wasser des Lebens in die Erde zu giessen und das Brot zu teilen.
L. Vaughan-Lee: «Die Welt ist am Verhungern. Durch unsere kollektive Haltung isolieren wir die äussere Welt von ihrem spirituellen Kern.»

Deshalb lasst uns auch Verbindung sein zwischen der geistigen Welt und der Erde, auf der wir leben, zwischen dem Kern und der äusseren Erde; lasst uns Verbindungsglied sein zwischen der Quelle und der dürstenden Erde.

Etwas soll auf die Erde gebracht werden. So empfinde ich es. Ich ahne es, was es sein könnte, es entzieht sich mir aber jeder Formulierung.

Wer liebt, gebiert, und was geboren ist, singt.