Geduld

Seit ich lebe, übe ich mich in Geduld. Sie ist mir nicht in die Wiege gelegt worden; ich muss (darf) sie erarbeiten.

Geduld ist die Zeit, die es braucht, damit sich eine Vision verwirklichen kann, die Zeit, die nötig ist, damit sich das Leben erfüllen kann und im Kleinen ist Geduld die Zeit, damit sich eine Emotion oder ein Impuls voll aufbauen und entfalten kann.

In Ruhe bei dem verweilen, was ist, ist Geduld. Verweile ich zum Beispiel bei aufkommender Trauer und der sich langsam breit werdenden Bewegung, mit der sie sich aufbaut, dann komme ich langsam in die Tiefe meiner selbst und ich erkenne die Ursache meiner Trauer, die zum Beispiel darin bestehen kann, dass ich in meinem Leben zu wenig auf mein Herz gehört habe. Nur wenn ich mir die benötigte Zeit nehme, mich in meine Trauer* (oder wie immer das jeweilige Gefühl ist) zu versenken, kommt es zur nötigen, tiefen Einsicht, die zu einer Verhaltensänderung führt, zu einer Einstellungsänderung oder gar zu einem Wachstumsschub.
Das Abschneiden und Töten aufkommender Impulse und Gefühle, lange bevor sie sich in ihrer ganzen Gestalt aufbauen können, schadet uns. Es ist als, ob wir Blumen ausrupfen würden, lange vor ihrem Erblühen. Es handelt sich hier um Micro-Tötungs-Impulse, meist unbewusst, die damit zu tun haben, dass wir uns nicht vollständig erlauben, zu lieben und zu leben.

Seit Wochen höre ich immer wieder Klaviermusik von Erik Satie, der jeden Ton in sich erlauscht haben muss, bevor er ihn zu Papier gebracht hatte. Es ist langsame, perlende Musik, melancholisch und verträumt, die stark von der lebendigen Zeit der Pausen zwischen den Tönen lebt. (Erik Satie: Gymnopédies oder Gnossienne.)

Nun, da ich älter werde, akzeptiere ich meine Verlangsamung und erfahre, dass dadurch mehr Ruhe und Friede, die Früchte der Langsamkeit, aufkommen können.

Nun lehne ich zurück und atme tief ein und aus. Ich will diesen Artikel langsam und mit Geduld schreiben.

Der Druck, rasch ein Ziel zu erreichen führt zur Ungeduld, zu Stress und oft zu Gewalt. Nur schon der kontinuierliche Druck, den Menschen auf sich selbst ausüben, ist beginnende Gewalt, die krank machen kann. Ungeduld, ständiges Tempo und Gewalt bedingen sich gegenseitig.

Damit etwas Gestalt annehmen kann, braucht es Zeit. Die Zeit fliesst aus der absoluten Welt der Zeitlosigkeit in unsere zeiträumliche, relative Welt.
Zeit ist ein zartes, feines Strömen: Wachstums-Elixier. Sie fliesst in der Geschwindigkeit und in den Rhythmen, die ihr aus höherer Weisheit immanent ist. Manche verstehen Zeit als ein Attribut Gottes.

Zeit ist zart. Zeit ist natürlich, wenn sie nicht durchgeplant, chronologisch ist.

Liebe Leserin, lieber Leser: Wenn Du magst, lehne dich jetzt zurück, schliesse die Augen und denke: Ich lass mir alle Zeit, die ich brauche, um mich ganz selbst zu sein.
Atme und spreche diesen Satz ein paar Mal langsam und liebevoll zu dir selbst.

Vermutlich wirst Du eine Veränderung in Deinem Befinden und in deinen Organen fühlen. Vielleicht fühlst Du alten, sich nun lösenden Druck und aufkommende Leichtigkeit.

Ungeduld und dauernde Beschleunigung führen dazu, dass wir Mensch immer heftiger in die natürlichen Abläufe eingreifen. Bis hin zu massloser Gewalt. Die ganze Welt dreht in dieser Beschleunigungsspirale der Ungeduld, die atemlos und rücksichtslos macht. Durch die überdüngten Böden, Monokulturen und den Einsatz von Mega-Maschinen veröden Landschaft, erodieren und vertrocknen Böden, sterben Wälder. Dies als ein Beispiel von vielen.
Es ist wohl Panik, die zu ständig heftigeren Eingriffe in die Natur der Erde und des Menschen führt.

Ohne Entschleunigung keine Natürlichkeit. Ohne Verlangsamung und Geduld kein Gesundheitswesen, das auf Salutogene beruht.

Salutogenese beinhaltet die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen, der Glaube an die eigene Wirksamkeit und der Glaube an den Sinn des Lebens. Diese Fähigkeiten entwickeln sich langsam und stetig; sie setzen Geduld voraus.

Langsamkeit und Geduld lassen uns erkennen, dass die Seele, in der wir leben, eine milde, sanfte und wissende Substanz ist. Von ihr getragen finden wir in ein friedvolles Leben, jenseits von Stress und Hetze und fernab von Gewalt.
Die Seele umhüllt und durchströmt uns zärtlich und erfüllt uns mit Seins-Seligkeit. Sie gibt uns den Schutz, den wir in dieser hektischen Welt brauchen. Durch Geduld und Geruhsamkeit wird sie uns immer zugänglicher.

Erst jetzt dürfen wir von Nachhaltigkeit sprechen. Sie baut sich auf der Ebene der Seins-Erfahrung auf.

Wenn wir also noch einmal zurücklehnen, ruhig, tief und liebevoll mit dem Satz atmen:
Ich lasse mir alle Zeit, die ich brauche, um mich ganz selbst zu sein,

werden wir vielleicht spüren können, dass sich eine heilende Energie aufbaut, die unter dem Deckel von Ungeduld und Betriebsamkeit darauf gewartet hat, erkannt und gelebt zu werden.

Ich werde nicht damit aufhören, Geduld einzuüben.

*zur Trauer: Die zur Trauer gehörende Energie-Bewegung geht meist sowohl in die Breite, wie auch in die Tiefe, verbunden auch mit einem Lösen von Spannung und Druck, oft im Bauch-Bereich. Nach einiger Zeit kann sich eine Aufwärts-Bewegung einstellen. Wenn diese Bewegungs-Gestalt abgebrochen wird, kann sich der nachfolgende Entwicklungsschritt kaum oder gar nicht einstellen. Dies gilt für alle Gefühle. Es scheint eine Zeit-Krankheit zu sein, nicht bei einem einzelnen Gefühl verweilen zu können.
E-Motion kann man auch lesen und verstehen als Energie (E) in Bewegung (Motion).

Reflexionen über das menschliche Gesicht

In den letzten Tagen und Wochen erschrak ich einige Male, als ich unvermittelt in ein Gesicht blickte, das vor mir plötzlich auftauchte, wie das oft geschieht, wenn man sich an einem viel begangenen Ort aufhält, wie zum Beispiel in einem Supermarkt. Ich erschrak jeweils über den Gesichtsausdruck, der mir wie eingemeisselt erschien und nur eines auszudrücken schien. Zum Beispiel: «Ich schlage mich hier einfach durch!» oder «Ich passe immer auf!» – oder was auch immer das betreffende Gesicht zu sagen schien.

Ich stellte dann nach einigem Nachdenken und Beobachten fest, dass es viele Menschen gibt, deren Gesichter  ihre charakteristische Art, das Leben zu empfinden und auf es zu reagieren, präzise widerspiegeln.
Es muss das Lebensgrundmuster sein, das sich da visualisiert, eindeutig eingeprägt, eingezeichnet im Gesicht, welches kaum etwas anderes zuzulassen scheint, als eben die charakter-gepanzerte Weise, sich im Leben zurecht zu finden. Da hat sich eine kleine abgeschlossene, ja abgekapselte Identität herausgebildet, eine maskenartige Persönlichkeit (Persona) mit ausschliessendem Charakter.

Danach wurde ich auch auf Gesichter aufmerksam, die nicht nur die vordergründige Reaktionsbereitschaft auf das Leben zum Ausdruck bringen, sondern auch den Erlebnis-Hintergrund. Etwa so: Vordergründiger Ausdruck: «Ich finde mich schon zurecht in dieser Welt», zweite Botschaft:» Ich bin verloren auf dieser Welt, helft mir». Die zweite, hintergründige Botschaft stellt sich gleich nach dem ersten Eindruck ein, wenn man beim Anblick des Gesichtes eine kleine Weile verbleibt.
Manche Gesichter drücken aber auch einen Facettenreichtum aus oder sie erzählen Geschichten.

Das Gesicht lässt sich auch verstehen als die sichtbare Gestalt des Menschen.

So, wie ich das Leben auffasse und auf es reagiere, drückt es sich in meinem Gesicht aus. Man könnte nun denken, dass das menschliche Gesicht, doch sehr viele Facetten des Welterlebens widerspiegeln müsste. Offenbar ist es aber häufig so, dass sich eine Art von Grund-Tenor wie ich im Leben stehe, herauskristallisiert und zu dominieren beginnt und alle anderen Lebens-Nuancen gleichsam aufsaugt und in den dominanten Rahmen stellt.

So wird das Gesicht zur Maske, zur Persona, die alles zu zeigen scheint und alles versteckt. Die ganze Vielfalt und die seelische Lebenstiefe sind maskiert. Mit anderen Worten: Wir neigen dazu, die Welt so zu sehen und zu interpretieren, wie wir es aufgrund unserer Prägungen eingeübt haben. Demgemäss färben wir die Welt ein und sehen sie in der Farbe, die wir auf sie projizieren – während die anderen Farben in Untergrund versinken.

Nun gibt es aber auch Gesichter, die nebst den eingeprägten Qualitäten, Emotionen und Reaktionen noch so etwa wie offenen Lebens-Raum ausstrahlen: Raum für das Unbegreifliche, Unerklärliche, das Zauberhafte und das Erstaunliche des Lebens. Da fühlt man Platz: dieser Mensch nimmt sich Raum und gibt Raum – da ist nicht alles festgelegt. Man spürt: dieser Mensch ist nicht völlig identifiziert mit seinem Charakter seiner kleinen Aussenpersönlichkeit, da ist Luft, da kann sich Neues finden. Da findet sich Ereignisraum, Klang-Raum.

Hier versteht sich die Person als Klangkörper, offen für den durchströmenden Geist, das Geistlicht. Per Sonare (Per-son) meint das Durch-tönende. Materie versteht sich hier als ein Gefäss für das geistige Einströmen. Materie und Geist finden hier zu einem sich ergänzenden Miteinander – im Gegensatz zum trennenden, egozentrischen, eine Kapsel bildende ICH.

Wenn ältere Mensch, die in der zweiten Lebenshälfte damit begonnen haben, sich zu de-identifizieren, um sich von alten, jetzt unpassenden Identifizierungen zu lösen und sich von ihren inneren Strukturen und Zwängen ein Stück weit zu befreien, kommt wieder das Staunen des Säuglings, den sie einst waren, in ihr Gesicht. Diese Gesichter beginnen nun durchlässig und transparent zu werden.

Im Anblick von befreiten Gesichtern können wir uns selbst befreien. In ihnen kann etwas werden, was vorher noch nicht da war. Wenn unser Gesicht freier wird von eingestanzten Prägungen, können sich jene, die uns sehen und uns begegnen, sich weit eher finden, als wenn unser Gesicht, von unseren Konzepten und Vorstellungen über uns selbst festgelegt bleibt. Solche Gesichter verwandeln sich leise in ein Antlitz, in dem das Wesen der Person hindurch strömt.

Bei unserer Wesens-Werdung, bei der sich unser Seelenzentrum mehr und mehr ausweitet,
was man am besten in den Augen erkennen kann, erscheint das Gesicht als weich und belebend, trotz aller Falten, es beginnt zu scheinen und wirkt bewusst und oder unbewusst lebensspendend und frei lassend auf die Umgebung. Allmählich beginnt sich das Angesicht im Gesicht zu zeigen – oder zu erahnen.

Noch was: Wer es zulässt, gesehen zu werden, von den Augen der Wahrheit und der Liebe, wird dieses Anteil-nehmende Umfassende schrittweise integrieren und sein Gesicht wird diese Erfahrung bezeugen.

Im Angesicht, das sich im Seelenzentrum verbirgt und sich zu rechten Zeit teilweise oder ganz offenbart, kann jeder und jede ganz zu sich selber finden. Hier ist vollkommene Freiheit und Angenommensein. Nun können wir alle unsere Masken ablegen. Wir wissen, dass wir geliebt sind. Völlig getröstet atmen wir auf und neue Räume erschaffen sich.

«Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt worden bin.»

  1. Kor. 13,12

Beitragsbild: Zeichnung von Werner Binder

 

 

KATHOLISCH

Katholisch meint: Die Universalkirche, die gesamte Christenheit, die als allumfassende Kirche den irdischen Leib Christi bildet.

Ich bin nicht katholisch. Aber viele meiner Freunde während meiner Kindheit waren es. Eine „Vorladung“ beim Geistlichen der katholischen Kirche – meistens an einem Samstag- galt bei meinen Freunden, als etwas vom Schlimmsten, das einem passieren konnte. Sie alle waren nach diesen Gesprächen, die sich um Onanie, Schuld, Fegefeuer und Hölle drehten, geknickt und verwirrt. Gut war ich nicht katholisch.

Als junger Erwachsener hörte und lass ich viel über die dunkle Seite der Kirche, zum Beispiel über ihre Anpassungsbereitschaft, ihr Schweigen im 3. Reich. Bonhoeffer als einer der wenigen leuchtenden Ausnahmen.

Als junger Psychotherapeut kam ich oft mit Klienten in Berührung, die von ihrer kirchlichen Erziehung her traumatisiert waren. Oft drehte es sich um Scham Schuld, Begehren und um verderbliche Sexualität. Vor allem um Schuldgefühle, die unausweichlich waren.

Dann machte ich einen Stopp und verweigerte für ein paare Jahre jede Auseinandersetzung mit dem Christentum und der Kirche. Diese Latenzzeit tat mir gut.

Später trat das Wesen Christus erneut und intensiv in mein Leben und ich wusste vorerst nicht, wie ich innerlich mit der Kirche umgehen sollte. Ich rettete mich in meinen analytischen Verstand und sagte mir etwa Folgendes:

Die Kirche ist ein System, welches sich überfordert erwies, die Liebes- und Bewusstseinskraft des Jesus Christus zu integrieren und zu leben. Dies ging so weit, dass das System die Wirklichkeit ihres Meister zu unterdrücken und ins Gegenteil zu verkehren begann. Statt Befreiung wurde Zwang gesetzt, statt Liebe und Verzeihen, Urteil und Verdammnis.
Ich sagte mir, dass die Kirche, insbesondere die katholische ein krankes System sei, durchzogen von struktureller Gewalt. Ich bezeichnete das System auch als neurotisch und krank, umso mehr als in den letzten Jahrzehnten der zahlreiche Missbrauch von Kindern und Jugendlichen publik wurde, trotz aller Vertuschungsversuchen. Missbrauch, insbesondere von Kindern, so wurde es klar, hat in der katholischen Kirche System. Es geht hier um Zahlen wie Zehntausende, oder gar Hundertausende von Kindern und Jugendlichen die weltweit in den letzten Jahrzehnten missbraucht worden sind. Ein Beispiel:“ In den Akten aus allen katholischen Bistümern Deutschlands sind in der Zeit zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3677 Kindern und Jugendliche als Opfer genannt. Bei 1670 Klerikern gibt es Hinweise darauf,…“ (NZZ). Es handelt sich da also nicht um Einzelfälle, wie ich am Anfang noch glauben wollte. Auch bei den Vergewaltigungen von Nonnen durch Priester und Bischöfe, scheint es sich nicht (!!) um Einzelfälle zu handeln. Die ständigen Verharmlosungen unterstreichen das Grauen.
Dennoch war es mir bewusst, dass es im Katholizismus zahlreiche Inseln echter, liebevoller Nachfolge gibt.

Ich beschäftige mich in den letzten Wochen anfangs mit Fakten, dann spürte ich, wie meine Wut und meine Empörung anwuchsen.

Zuerst war die Analyse da, in die schon einige Wut eingeflossen war, dann war nur doch Zorn und Empörung übrig und als sich die Wut immer wieder meldete, fragte ich mich, was denn hintergründig meine Aufmerksamkeit verlangt und dann wurde es mir plötzlich bewusst:
Ich bin erschüttert. Ich bin sehr traurig.
Ich erinnerte mich an alle meine Klientinnen und Klienten, die als Kinder oder Jugendliche missbraucht worden waren. Mit ihnen, den schwer traumatisierten Menschen, litt ich mit. Ich begleitete sie über sehr viele Jahre, bis sie wieder aufrecht gehen konnten.

Und jetzt sehe ich: Die mächtigste Täterschaft was Missbrauch betrifft, ist die Kirche: die Kirche, der irdische Leib Christi – so im visionären Bild des Paulus, welches in mich eingeflossen ist und nun auch ein Ausdruck meiner Hoffnung und meines Schmerzes ist.

Lest diesen Satz bitte einige Male, um den Schrecken, der in ihm liegt, zu fühlen.

Es gibt noch ein weiteres mystisches Bild für die Beziehung zwischen Kirche und Jesus Christus: Dir Kirche als die Braut, die sich nach ihrem Geliebten, Jesus Christus, dem Bräutigam, sehnt. Vollendet werde die Begegnung in der mystischen Hochzeit sein.

Das Brautkleid ist blutig, zerrissen, schmutzig. Offensichtlich! Wie konnte das nur geschehen?

Wurde Jesus ein weiteres Mal gekreuzigt – diesmal von seinen Nachfolgern, der Kirche selbst?

Diese Frage tut weh; sie muss gestellt werden. Wenn die Kirche in der Tiefe erneuert werden will, muss sie durch diese Frage hindurch.

Ich habe einige gute Freunde in der katholischen Kirche, die sich voller Liebe, Authentizität und Wahrhaftigkeit in der Kirche engagieren. Sie und viele andere bilden leuchtende Zellen in diesem ansonsten doch eher kranken Organismus. Die schrecklichen Taten, von denen ich hier berichte sind unerträglich. Wir können sie und die Verantwortung dafür auch nicht an eine Person, zum Beispiel den Papst, delegieren. Ein solches System, wie die katholische Kirche konnte sich nur erhalten, weil es auch von der Gesellschaft rundum irgendwie getragen und geduldet oder resigniert hingenommen wurde und wird.

Deshalb sage ich nun: Ich bin katholisch; ich fühle mich solidarisch mit den geschundenen Organen des Leibes.

HERR ERBARME DICH – CHRISTUS ERBARME DICH.

Falls Du Dir jetzt noch drei Minuten Zeit nehmen magst, so höre Dir von Arvo Pärt: Kyrie an, auf YouTube leicht zu finden.

Beitrags-Bild: Pieta

Was mich freut

Die weltweiten Demonstrationen von Kindern und Jugendlichen für die Wiederherstellung eines erträglichen Klimas freut mich ungemein, ebenso, dass sachte eine Bewegung aufzukommen scheint, welche die weibliche Kraft und Sexualität aufwerten will – ich denke da auch an den Film «Female Pleasure»- Das sind gute Gründe Hoffnung aufkommen zu lassen.

Klima: Der Aufschrei junger Menschen zum Handeln jetzt
Greta Thunberg, die alles in Bewegung gebracht hat, sah sich vor einem Jahr einen Film-Beitrag über den Plastikmüll in den Meeren an, der sie aufrüttelte. Danach weinte sie oft, hörte auf zu essen, weigerte sich später in die Schule zu gehen. Stattdessen sass sie vor dem schwedischen Parlament mit einem Protest-Plakat. Sie sagt, dass sie nicht Hoffnung geben wolle, sondern Panik erzeugen wolle, so wie sie selbst in Panik sei.

Ihr Mut wirkte ansteckend. Nun demonstrieren weltweit Tausende gegen die verbreitete Ignoranz, Lethargie und Halbherzigkeit bezüglich der Umsetzung der Klimaziele, wo es doch jetzt um entschiedenes Handeln geht.
Die Ernsthaftigkeit der Lage wird in der Klima-Diskussion gerne weg-geredet: Von Rationalisierung wird in der Psychologie die nachträgliche, verstandesmässige Rechtfertigung eines aus irrationalen oder triebhaften Motiven erwachsenen Verhaltens gesprochen. Dieser Abwehr-Mechanismus ist in unserer patriarchalischen Kultur sehr weit verbreitet. Der Mechanismus «dient» der Unterdrückung und Verleugnung jener Gefühle, die der jeweilen Situation angemessen wären. «Der Verlust der Gefühle ist recht eigentlich die Neurosenform der heutigen Zeit, wo durch Kopflastigkeit, Rationalität und Objektivität sich allmählich ein Bewusstseinspatriarchat um den Preis weiblicher Werte (nicht geschlechtsspezifisch verstanden) herausgebildet hat.»*

Da brauchte es eine Greta mit dem Asperger-Syndrom, die in der Lage war, unmittelbar, auf eine gesunde Art, rücksichtslos emotional zu agieren.

Lange war ich der Meinung, dass die Jugend völlig a-politisch sei und damit hatte ich wahrscheinlich so recht, wie Unzählige, die das auch so beurteilten. Das hat sich aber jetzt fast schlagartig geändert und darüber freue ich mich riesig.
Ein wenig beschämend für uns Erwachsene ist es ja schon, dass uns eine 15-Jährige helfen musste, uns aus unserer Sprachlosigkeit zu befreien.

Weibliche Kraft – weibliche Sexualität
In meinem Artikel «Das Unglück der Spaltung und die Freude der Wiedervereinigung» äusserte ich die Ansicht, dass es dringend an der Zeit wäre, das Weibliche, Mutter Erde und die Weltseele in unser Selbst-Befinden und Bewusstsein einzubeziehen. Dazu gehört auch die weibliche Erotik und Sexualität, die weltweit gewaltsam unterdrückt wurde und wird, was der erwähnte Film «Female Pleasure» sehr eindrücklich zeigt.
Die Kirche, wie auch alle (ja, alle!) Gross-Religionen über Jahrhundert, glaubte, dass es ihr zustünde, den Menschen ihre Mündigkeit, was ihr Liebes- und Beziehungsleben, aber auch was ihre Sexualität betraf, abzusprechen – dies ganz besonders den Frauen.
Diese Meinungshoheit und Deutungsmacht der Religionen haben heute weitgehend die kapitalistischen Mächte übernommen, insbesondere alle jene Unternehmen, die den sexuellen Milliarden-Markt bedienen.

Sie sprechen sich für die alten Sexual-Konventionen aus, deren problematische Beibehaltung es ihnen erlaubt, grosse Geschäfte mit Ersatzbedürfnissen zu machen wie Schönheits-OPs, Pornografie, Web-Begegnungs-Plattformen, Kosmetik, Mode, Klatsch-Presse, etc.
Wie ich immer wieder betone, glaub ich, dass unsere Gesellschaften auf Kompensation (Ersatz) aufgebaut sind. Das Loch, das die verleugnete Seele und der drangsalierte menschlichen Körper hinterlässt, versucht man durch künstlich geschaffene Schein-Bedürfnisse und entsprechenden energie-verschleissenden Konsum zuzuschütten, wodurch wir unsere Welt verunstalten.

Es scheint die Zeit gekommen zu sein, dass Menschen, vor allem Frauen, sich nun auch in sexueller Hinsicht mündig, selbstverantwortlich und autonom fühlen, und dementsprechend leben und handeln wollen.
Das ist eine sehr gute Nachricht mit globalen Auswirkungen. Der Mensch, insbesondere die Frau, erklärt sich als mündig!

Gerechtigkeit und wahre, auf Respekt beruhende Partnerschaft zwischen Frau und Mann bilden die Grundlage für eine friedvolle und kreative Welt – die Basis für den Welt-Frieden.

Männer des Friedens werden alles dafür tun, sich für die Gleichberechtigung und Würde der Frau einzusetzen. Sie wissen, dass davon auch ihr Glück abhängt – und ihre eigene Würde.

Wie es zusammenhängt
Beim Schreiben über die beiden behandelten Themen wurde es mir immer klarer, zuerst intuitiv-emotional, dann gedanklich, wie diese miteinander in Beziehung stehen:
Ich behaupte, dass der Klimawandel und die mögliche Klimakatastrophe die Folge der unharmonischen und teilweise gestörten Beziehung zwischen Frau und Mann, zwischen männlichen und weiblichen Energien und Qualitäten sind. Der Mensch wurde als Frau und Mann geschaffen. Sie stehen sich polar und in Ergänzung gegenüber. Beide, sowohl Mann wie Frau tragen das Gegen-Geschlecht auch in sich. Individuation nach Jung meint unter anderem, dass der Mann seine weiblichen Qualitäten (Anima) und die Frau ihre männlichen Eigenschaften (Animus) entwickeln. Somit treten beide Geschlechter mit dem anderen Geschlecht in zweifacher Hinsicht, im Aussen und im Innen, in Beziehung. Dies ist ein laufender Prozess; eine Art von leichtem, elegantem Tanz. Dieser schöpferische Tanz wird in weiten Teilen der Welt unterbunden durch strikte Normen, Konventionen, welche das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in starre, alle persönlichen und kulturelle Unterschiede übergreifende, zwanghafte Formen presst. Sehr oft auf Kosten der Frau, die sich dem Manne unterstellen soll – sozial und sexuell. Die katholische Kirche steht dafür als ein schreckliches Beispiel.

Während der liebevolle, partnerschaftliche Tanz zwischen Frau und Mann Freude, Friede und Kreativität erzeugt – davon bin ich überzeugt- bewirkt verordnete Unmündigkeit Einengung und Angst. Dadurch wird das menschliche Fundament geschwächt, denn nur die wahre, gleichberechtigte Partnerschaft, welche die mündige Sexualität einbezieht, schafft Friede und Harmonie auf der Welt und die nötige Kraft, Verletztes zu heilen.
Das Loch, das die verleugnete Seele und der Mangel an freier, mündiger Liebe und Sexualität verursacht, wird im Konsumrausch zugepflastert. Das Erzeugen und die Befriedigung von künstlich erzeugten Bedürfnissen, führt zur Ausbeutung der Erde. Natürliche Systeme kollabieren (jetzt z.B. das Insektensterben), die Erde-Atmosphäre erhitzt sich.

Die Klima-Katastrophe ist das Resultat des mangelnden Verständnisses über die ursächlichen, zentralen menschlichen Bedürfnisse.

Dies ist wohl eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Ursache der planetaren Krise.
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*Kathrin Asper: Verlassenheit und Selbstentfremdung, S. 43, Patmos Verlag

 

Ode an das Licht

Eine Ode ist ein feierliches Lied, eine Hymne – sowohl ein meist lyrischer Tex, wie auch ein Gesang, eine Melodie, getragen von einer lobenden Emotion und von innerer Bewegtheit. Durch die Augen der Seele erlebt, gewinnt das Leben jene feierliche Dimension, die alles aus der Flachheit des Gewöhnlichen emporhebt.

Jemand wird für uns Liebeslieder singen

„Es werde Licht
und es wurde Licht.“

Als Gott zum Menschen zu sprechen begann,
wurde es Licht;
es entflammte Seinem Hauch
und ging als Seele in Seine Geschöpfe ein.

So wurde diesen das Licht gewahr
und sie liessen sich davon begeistern und
durchstrahlen. –
In freudiger Glückseligkeit,
kam der Moment,
da das Licht zu singen begann, –
und es war offenbar; dass das Eine,
All-Gegenwärtige
das Viele durchstrahlte.

Dann kam eine lange Zeitspanne,
als die Lebenden in eine tiefe Finsternis abglitten,
in Betäubung und Schmerzlosigkeit,
wo sich bleierner Schlaf auf sie legte,

…bis sich das Leben erneut zu regen begann.

***

Wie aufregend
die violette Haut der Weisen,
die sich in ihren Tränen spiegeln,
sich wiedererkennend
die Wange auf ihre Knie legen,
um die Vibration der Welt zu hören

und dabei erleben,
wie sich die Erd-Vibrationen aus Licht
in einen grossen Gesang verwandeln.
Dieser Gesang,
den nur die Hörenden vernehmen,
bringt die Erde, trotz Dunkelheit
zum Erblühen.

Wir sind Lichtwesen,
die ihr Licht nicht mehr sehen,
Sängerinnen, die ihre Klänge nicht mehr hören,
– solange, bis wir aus unruhigem Schlaf erwachen
und spüren, dass wir etwas vergessen haben –
und es wagen,
uns zu öffnen und zu erkennen,
dass uns jemand Liebeslieder singt.

In dem Moment, wo das menschliche Herz
zu empfangen und zu hören beginnt,
fängt die Vibration zu tönen an,
fängt das Licht zu singen an.

Die Zeit wird kommen,
da sich der Gesang erhebt,
wie ein Sonnenaufgang,
den wir so leuchtend und so beseligend
noch nie gesehen, noch nie erlebt haben.

 

PS: Ich glaube, dass es gut ist, wenn wir alle Gelegenheiten wahrnehmen, uns Liebeslieder vorzusingen.
Titelbild: „The looking sun“ Zeichnung von Werner Binder
  

Unrast und Geborgenheit

Dies ist der zweite kleine Reise-Bericht. – Sind die kleinen Reisen Übungen zur Entwicklung der Bewusstmachung der grossen Lebens-Reise? Bildet sich in jeder kleinen Reise eine Sequenz, also ein Schritt im Prozess der seelischen Bewusstseins-Entwicklung, ab? Anders gesagt: Ist es so, dass ein jetzt virulenter Teil meiner inneren, spirituellen Reise sich über meine äussere Reise legt und, dass sich durch die Interaktion der beiden Ebenen ein Beziehungs-Muster entwickelt, das es zu lesen gilt? Könnte man also eine so kleine Reise, wie die meine von Zürich nach Olten sogar als eine Pilgerreise verstehen?

Ich sitze im Zug und beobachte mich. Ich schaue mir zu, wie meine Blicke herumwandern, um etwas zu finden, das meine Blicke anzieht: sehe jetzt die Frau dort, höre ihre Stimme, bemerke wie sie gestikuliert, einige Sekunden oder Minuten lang, bis meine Blicke weiterziehen, auf der Suche nach etwas, das meine Sinne neu fesselt: die Schneeflecken draussen, der Flusslauf da unten. Schön. Und dann kehre in den Sessel zurück, in dem ich mich ausgestreckt habe. Der Mann, mir gegenüber, hat wässrige Augen, sonst aber ein beherrschtes, angestrengtes Gesicht. Nur die Augen hat er nicht unter Kontrolle. Sie drücken Kummer aus.
Ich bemerke, dass ich im Innersten Halt suche. Jetzt fällt meine Aufmerksamkeit auf die Rundungen der Brüste jener Frau dort… nun nehme ich nur noch Farben, Formen, Geräusche wahr. Jetzt: die freundliche Zugführerin, die geduldig auf Fragen eingeht.

Ich bin auf der Suche. Wenn ich meine Suche auf etwas richten kann, das meine Aufmerksamkeit erregt, gibt mir das Halt für eine paar Sekunden, dann nehme ich Kontakt, ja vielleicht Beziehung auf, bleibe eine Weile bei dem, was ich sehe oder höre, ruhe mich dann ein bisschen aus. Etwas wärmt mich, wenn auch nur für kurze Zeit. Es kann auch ein Gedanke sein, der mich fesselt oder eine schöne Idee oder eine Erinnerung. Dann schweife ich wieder weiter. Ich suche, um anzukommen.

So, hat mein innerer Beobachter festgestellt, läuft es seit Jahrzehnten. Diese Art des Suchens, nach etwas, das mich hält, mich birgt und beruhigt, ist mir zur Gewohnheit geworden. Es ist ein suchendes Umherwandern. – So weit, so gut.

Doch hat diese Gewohnheit auch eine problematische Seite. Das, worauf sich meine Aufmerksamkeit richtet, ist oft von kurzer Dauer. Es ist eine Art von Gedanken-Streunen und ein Suchen nach Attraktoren. Manchmal ist es unruhig und beunruhigend. Streunen und Zerstreuung. Die einzelnen Objekte, an die ich mich kurzfristig anhafte, wärmen mich nur flüchtig und deshalb erhöhe ich mein Tempo des Suchens. Es entsteht Unrast, Anzeichen von Sucht und von Angst. Es ist ein Suchen am falschen Ort, auf der falschen Ebene. Immer, wenn Sucht im Spiel ist, sind wir auf der falschen Ebene, im Bereich der Kompensation.

Vielleicht ist es ein Suchen nach der Mutter. Oder doch eher ein Suchen nach Aufgehoben-sein in Gott.

Dann, nach dieser Einsicht – immer noch im Zug- habe ich den Fokus (den Modus) gewechselt und mich nach innen gewandt. Ich habe in mein Herz geatmet und ich habe mich mit allem verbunden, mit allen mir bewussten Dimensionen, die mich ausmachen: mit meinem Körper, meiner Seele, Mutter Erde, dem Kosmos, dem EINEN. Und ich fühle wahres, bleibendes Aufgehoben-sein. Viellicht hat Jesus das gemeint (dieses sich nach innen wenden), als er von Umkehr gesprochen hat.

Der äussere Such-Modus, so wurde mir dann bewusst, ist Ersatz für die Suche und das Finden des Einen. Ich irre im Vielen herum, wenn ich mich – MICH – vergesse. Ich zerstreue mich aus Angst davor, nicht zu SEIN.

Sind wir Menschen nicht alle mehr oder weniger konditioniert zu einer Art von «Miniaturisierung». Ich meine damit, dass wir uns in der materiellen Vielfalt verlieren, weil wir das Wissen und Spüren der grenzenlosen Zusammengehörigkeit vergessen haben.

Was ich im Zug erlebt habe, war eine Erinnerung – ein Wiedererinnern dessen, was ich bin: ein vielschichtiges Wesen mit einem Kern, der alles hält. ICH BIN GEHALTEN, ICH BIN GEBORGEN.

Nach dem mich mein innerer Beobachter (der Zeuge) auf diese alte Prägung des suchenden Herumirrens aufmerksam gemacht hat, blicke ich wieder nach aussen, sehe mich in diesem kleinen vorübergehenden Ausschnitt des Bahnwagens, der durch den kalten Wintertag rast und ich sehe nun die gleichen Objekte wie vorher, aber nun aus der Klarheit und Stille des Herzens und ich kann mich an dem Vielen erfreuen ohne Unrast, ohne die Seitentriebe irgendwelcher Süchte. Ich sehe aus dem Einen in das Spiel der Mannigfaltigkeit – ohne zu klammern und ohne zu jagen.

Mein innerer Beobachter hat auch bemerkt, dass diese alte Gewohnheit an Macht über mich eingebüsst hat.
Es wird mir auch bewusst, dass diese hier geschilderte Gewohnheit nicht nur meine individuelle Schwierigkeit ist, sondern auch ein gesellschaftliches Korsett, das mich prägt, eine Art von Verhaltens-Zwang, die auf Ausweglosigkeit hinweist. Wir Menschen scheinen in einem Käfig zu sein, in dem wir herumtigern, weil wir den Zugang zum unendlichen Lebensraum, der in uns ist, verloren haben. Die Reduktion auf die materiellen und äusseren Dinge und Reize hält uns auf einem ganz kleinen Platz fest; wir sind abgeschnitten von unserer Seele, an die wir den Glauben fast verloren haben, wenn wir nicht manchmal aus unruhigem Schlaf erwachen würden, mit der diffusen Angst, etwas vergessen zu haben.

wenn wir nicht manchmal aus unruhigem Schlaf erwachen würden, mit der diffusen Angst, etwas vergessen zu haben

Olten – Zürich

An der Bushaltestelle Kloosmatte ist es kalt, grau und windig. Das tiefe, kalte Januarloch eben oder der lange schwarze Januar-Tunnel, fast ohne Sonnenstrahlen. Der Kolonnenverkehr vor mir rollt zähflüssig. Auf der einen Seite, die stets volle Strasse und die Bahnlinie (nach Luzern), auf der anderen Seite, die Aare und die Zug-Linie (nach Bern), dazwischen wohne ich, gleich hinter der Tankstelle, die ich aus meinem Wartehäuschen heraus betrachte. Da hat mein Leben mich nun abgeworfen.

Vorher, beim Essen des Müsli (mit Schafmilch-Quark – enthält Orotsäure für natürliche Zellerneuerung) habe ich gelesen, dass alle Milliardäre der Welt täglich um 2 ½ Milliarden Dollar reicher würden.* Ich versuche dies zu fassen: täglich! Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung verliert täglich 500 Millionen. Täglich! Und es kommt mir auch in den Sinn, dass ich gestern von einem spirituellen Lehrer von der sterbenden Erde gelesen habe. Ich frage mich, ob ich die Erde auch als sterbend erlebe – bin mir nicht recht schlüssig. Sicher aber ist: sie ist schwer angegriffen.

Die Menschen im Bus haben fast alle die Kopfhörer im Ohr und das Smartphone in der Hand, welches sie antippen oder scrollen: rauf und runter. Die meisten Leute scheinen absorbiert zu sein, mit sich selbst beschäftigt. Ich auch.

Im Zug setze ich mich einer Frau gegenüber, die kurz lächelt, wie ein Aufblitzen. Ich vermute, dass sie feinfühlig ist. Sie hat sehr feine Gesichtszüge. Sie tut mir gut. Der Zug fährt an und gleich ist mir wohler im Wissen, dass nicht alles stehen bleibt.

Zwanzig Minuten später taucht der Zug, nach der Tunnel-Durchfahrt (der Baregg-Tunnel?) im Limmattal wieder auf. Neuenhof. Hier spürt man den Wettlauf der Zeit. Hier galoppiert die Zeit, während sie in den Tiefen des Aargaus zähe, schwarz-konservative Bänder zeichnet. Bald wird jede, auch noch so kleine Grünfläche, einem Betonklotz gewichen sein. Das Rennen um die letzten Standort-Vorteile ist im Gange. Im Wettlauf mit der Zeit – was für ein unheilvolle Redewendung!

In meinem geliebten Zürich steige ich aus. Hier rennen die Leute die Rolltreppe hinauf, während sie Olten regungslos stehen. Ein Leben zwischen Reglosigkeit und Rennen. Oben angelangt, die endlich einmal leere Bahnhofshalle und ich bemerke, dass ich bewusst atme. Gut. Hier scheint die Sonne durch die Glaswände -mein Inneres wird mild und fröhlich. Unsere Sonne ist ein Abglanz der Geist-Sonne. Sie hilft mir über manchen Kummer hinweg.
Wenn ich also bewusst atme… bete ich dann? Oder beginnt jedes Gebet mit einem bewussten Atemzug? Ich glaube, ja. Manchmal stelle ich fest, dass es in mir betet. Dann fühle ich mich frei und zu Hause.

Wenn ein Einvernehmen da ist, geschieht es.

An der Bus-Haltestelle, Bahnhofquai füttert ein Mann die Möwen, die ihn kreischend umhüllen, so dass er unsichtbar wird.

Die Leute im 46er sind hier urbaner, modischer gekleidet als in Olten, aber ebenso absorbiert. Auch der Möwenmann ist eingestiegen.

Lehenstrasse. Hier beginnt vertrautes Terrain. Links wohnt Johanna. Ich sage: Hallo; sie antwortet: ah, du, hallo. Der Bus, nun fast leer, fährt weiter.
Hier kenne ich alle Häuser und viele Bäume. Ich grüsse sie. Es ist ein gutes Gefühl, durch ein vertrautes Gebiet zu fahren. Ich atme frei.

«Schwert». Ich steige aus. Die Sonne. Ja! – endlich wieder.
Neben dem Pizza-Laden schliesse ich auf und betrete den gemütlichen schönen Raum und sage wiederum : Hallo, IG (wiederum nur innerlich, aber immerhin).
Es ist etwas Gutes, zu grüssen, auch die vorübergehende Zeit, das Leben, die Vertrauten, die Flüchtigen.

Wenn ich hinausschaue sehe ich die grosse Buche, jetzt ohne Laub. Sie ist auch ein bisschen meine Freundin geworden.

Ich mag die Gewohnheiten des Alltags. Eine davon ist die kleine Reise: Olten – Zürich.

ICH GRÜSSE DIE ZEIT

Ich sitze im Kreis
unendlicher Liebe
und grüsse die Zeit,
die vergeht,
unendlich.

Ich grüsse die Zeit,
die wie ein Tuch im Wind verweht,
an dir,
an mir
vorübergeht.

Ich segne die Zeit,
die vergeht,
an jedem Ort,
wo ich bin,
unendlich.

Dieses Gedicht habe ich wahrscheinlich 2005 geschrieben.

*Oxfam-Bericht

Die Geburt – der Ton

Der folgende Text ist N.B. gewidmet

Den nachfolgenden Text verstehe ich als den Versuch einer Zusammenfassung der Substanz meiner letzten Artikel. Es ist auch der paradoxe Versuch Unerklärliches zu erfassen. – Dieser Text basiert auch auf rhythmischen Wiederholungen und auf Bilder, die kaum ins Rationale zu übersetzen sind.

Wir brauchen eine existentielle und radikale Spiritualität, die uns berührt (wie die Zärtlichkeit), ergreift (wie die Hingabe) durchströmt (wie lebendiges Wasser) und durchrüttelt (wie ein Sturm und feurige Leidenschaft), eine Spiritualität also, die nicht im Kopf, im Verstand hängenbleibt, sondern bis in die Organe und Knochen eindringt, bis ins Seelenzentrum und uns umwandelt.

Die Metamorphose – durch Vertrauen ausgelöst.

Spiritualität ist Leben, dem wir uns vorbehaltlos hingeben, ist die Bereitschaft, uns vollkommen vom Leben berühren und durchströmen zu lassen. Sie beginnt, wenn wir uns vom Verstand und vom Ego nicht mehr beherrschen lassen und aufgehört haben, zu diskutieren. Wenn wir also die Bücher schliessen, aufstehen und weinen. Weinen, weil wir gerührt, berührt sind.

Stirb und werde durch die befreiende und erlösende Kraft der Metamorphose, die uns über die Schwelle trägt, heiter wie ein Herbstblatt im Wind.
Es ist ein Fallen, ein Gleiten in allem (in Abwandlung von Rilke).


Wir brauchen eine existentielle und radikale Spiritualität – Zärtlichkeit und Hingabe.
Umwandlung, durch das Sterben hindurch, in Heiterkeit.

Die wahre – die zweite Geburt des Menschen- findet dann statt, wenn sein Herz ganz aufgeht und «die Rose» den vollen Duft zu verströmt.

Es ist ein leiser Vorgang. Bevor sich das Herz ganz öffnet ist es bewegt, «schwanger», hervorgerufen durch «die Berührung». Die Rose des Herzens beginnt zu knospen, benötigt nun zärtlichen Schutz.

Doch dann:
Wenn sich die neue Quelle gebildet hat, im Moment der Herz-Öffnung, entsteht ein Ton. Manche sagen: Ein Engel sei geboren worden.
Dieser Ton «sprüht» durch das Universum.

Das Werden des inneren, wahren Menschen ist sehr leise, in einer für das menschliche Ohr unhörbare Frequenz, eine sehr feine Schwingung, die in die Schöpfung eingeht.

Die Schwingungen aller «Neugeborenen» wirken vereinend im Leibe der Schöpfung. Es bildet sich die Gemeinschaft der Liebenden. Aus diesen Schwingungen heilender Liebe erneuert sich der Planet und der Menschheitskörper.

Ist diese Vision auszuhalten? Ich glaube, dass es innere Stärke braucht, um Visionen zu halten. Das verleiht ihnen die Kraft der Verwirklichung.

Der Menschheitskörper erneuert und regeneriert sich fundamental durch das Opfer von Menschen, die bereit geworden sind, dem abgespaltenen Weltenschmerz, dem verdrängten Leiden zu antworten. Opfer ist Darbringung.

Die Antwort des Erwachenden ist Mitgefühl, wahres Mit-Leiden im Vertrauen und im Glauben an das Wirken der heilenden Schwingung, die im «Ton», dem aufbauenden Klang lebt, der in der Stille ist.

Wer hört, wird ins Leben gerufen. Wer hört, wird. Wer hört und empfängt, wird zu dem, was er gehört und empfangen hat. Empfängt er Lebenswasser, wird er zur Quelle.

Wer die Stimme, den Ton/Klang, auf dem Grund der Seele empfindet und empfängt, wird ins Leben hinein verwandelt.

Im «Ton» schwingt der sich in Freude verwandelnde Schmerz.

Wenn Menschen in Stille und Hingabe atmen, entsteht Licht, entsteht Bewusstheit. Darin richtet sich der Licht-Mensch auf, verbunden mit der Quelle, aus der er existiert.

Wo sollen sich die neuen, so benötigten Quellen bilden, wenn nicht im Herzen des Menschen?

Wir Menschen haben die Möglichkeit und Chance, bewusst an der grossen Umwandlung teilzunehmen, um ganz Mensch zu werden, als Mitfühlende, wodurch wir zu Strahlenden werden.

Dafür ist es unerlässlich, dass wir die Schreie der Notleidenden hören, wahrnehmen, zu Herzen nehmen. Der Karfreitag geht Ostern voraus.

Der Wandlungsvorgang ist ganz leise, still, sanft; weit weg von allem Getöse.

Wenn sich eine neue grundlegende Qualität, also eine neue Quelle, gebildet hat, entsteht ein Ton, der eine Brücke zwischen Schmerz und Freude bildet – eine Brücke zwischen Hier und Dort, Himmel und Erde.

Der Erwachende ist ein Antwortender. Im Licht der Stille richtet er sich auf.


Zusammenfassung: Eine tiefgreifende Berührung kann den hingebenden Menschen so zentral ergreifen, dass es in ihm zu einem Prozess der Umwälzung kommt. Dabei öffnete sich sein Herz und er kommt in Verbindung mit der göttlichen Quelle, aus der er lebt. Kann und will er dieses erweiterte Bewusstsein und die einströmende Liebe halten, wird er vielleicht zu einer Lichtträgerin oder zu einem Träger göttlichen Wassers. Im Prozess der Rückverbindung zum Ursprung ist dabei ein Klang oder ein Ton entstanden. Die Töne/Klänge der Erwachten finden zu einer Art Chor zusammen, der heilend und regenerierend auf die ausgetrocknete Erde und die durstige Menschheit einwirkt.

Das Unglück der Spaltung und die Freude der Wiedervereinigung

Mit dem Begriff «Weltenkörper», ein Begriff von mir, den ich hier einführe, meine ich erstens die Menschheit, auch in ihrer Geschichte, zweitens unsere Erde als physischen Körper und als Ätherleib und drittens die symbiotische Verbindung, die Union Mensch, Menschheit und Erde.
Körper und Leib werden dem Weiblichen zugeordnet. Die Frau ist die Mutter – Mutter Erde. Wenn der Papst, alle Frau, die je abgetrieben haben, als Auftragsmörderinnen bezeichnet*, lässt sich das interpretieren als letztes Aufbäumen des Patriarchats gegen seinen Zerfall. Denn die Zerstörung, Verurteilung und Abspaltung von Frau, Erde und Natur wendet sich schliesslich gegen seine Urheber.
Ich glaube, dass viele Menschen wieder auf der Suche sind, nach dem Menschen-Erde-Ganzen. Das weckt Hoffnung.

Weltenkörper und Weltseele
Der Mensch hat seinen Weltenkörper und seine damit verbundene Weltseele (anima mundi) weit von sich abgespalten.
Die Spaltung zwischen seiner Individualität, seinem Dasein als Einzel-Mensch auf der einen Seite und seinem Bewusstsein als Erdenbürger, bildet einen tiefen Riss in ihm, ja eine Wunde.

Diese Spaltung ist meines Erachtens eine der Haupt-Ursachen für die anhaltende Zerstörung unserer Mitwelt, die wir als Aussenwelt betrachten.

Die Klima-Katastrophe etwa ist eine der Folgen davon. Die «kapitalistische Philosophie», wenn es diese denn gibt, ist nicht bereit, sich mit dem Schmerz an sich zu befassen, sie kompensiert ihn mittels einer ausufernden und umweltbelastenden Kompensations-Industrie, die alles mit Konsum zudeckt und erstickt, was nach Verstehen und nach wirklichen Lösungen ruft. Ist dies die tragische Konsequenz des patriarchalen Weltverständnisses, welches sich womöglich in den letzten Zügen seines Bestehens befindet?
Die Spaltung erzeugt weltweit, so spüre ich es, eine Unruhe und eine Nervosität. Es ist, als ob wir Menschen schweben würden, wurzellos, entfremdet. Dahinter ist unschwer Trauer zu spüren. Trauer über den Selbst-Verlust. Wir versuchen durch Surrogate dieses «Loch» in der Seele zu stopfen. Zum Beispiel durch Wellness-Kuren, ohne wirkliche und dauerhafte Ruhe zu finden. Auf diese Weise heilt die Ur-Wunde, hervorgerufen durch die Spaltung, nicht.
Was bleibt ist Durst. Durst nach dem, was wir abgewiesen und abgespalten haben.
Vermutlich gab es in früheren Epochen und Kulturen Völker oder Gruppen von Menschen, die ganz mit und in dem Weltenkörper lebten. Ich denke dabei an bestimmte Indianerstämme. Zum Beispiel die Pueblos oder an andere matriarchale Zivilisationen.
Es muss Zeiten gegeben haben, in denen sich der Mensch von seinem Weltenkörper abgespalten hat. Die Gründe kenne ich nicht. Sicher aber ist, dass sich der Entfremdungsvorgang in den letzten Jahrzehnten der hyper-technischen und forcierten, alles an sich reissende wirtschaftliche Entwicklung verstärkt hat. Der abgespaltene Weltenkörper hat sich nun scheinbar gegen ihn gerichtet (Klima-Katastrophe), weil er ihn «verraten» hat. Alles, was wir abspalten, drängt zurück, weil es sich wieder verbinden möchte, es in die Ganzheit zurückstrebt. Wir Menschen fühlen uns von dem, was wir auch sind, angegriffen, doch es ist in Wirklichkeit eine Projektion unserer eigenen Destruktivität und Angst.
Angst vor unserer eigenen, abgespaltenen Natur!
Der Mensch, der sich von seinem Weltenkörper abgetrennt hat, erlebt diesen als etwas Wildes und Fremdes, das er glaubt, bändigen, beherrschen und kontrollieren zu müssen.

Eine Re-Integration unseres Weltenkörpers ist dringend. Die Wunde ist offen, blutet. Heilung tut Not. Wir können nicht ohne jene Wirklichkeit existieren, die wir auch wesenhaft sind.

Viele Menschen denken, der Erde sei der Mensch egal, oder: sie würde ihn als Störenfried erleben, ohne den sie sich besser entwickeln könnte.
Diese These bezweifle ich.

Ich bin überzeugt, dass die Erde den Menschen braucht, so wie er sie.

Ich stimme der Ansicht von Rudolf Steiner zu, der behauptete, dass der geistige Mensch, sehr lange vor seiner körperlichen Inkarnation, Anlass und Quelle der Bildung der Erde und des Sonnensystems war. Sein göttlicher Geist erschuf seine eigene Lebens-Grund-Lage, unseren Heimat-Planeten.

Mensch-Erde bilden eine Zwei-Einheit – eine Dual-Union. Die Spaltung dieser Einheit ist die Ursache für unsere Menschheits-Krise, die eine Überlebenskrise ist. Es gilt deshalb, sie zu überwinden, beziehungsweise sie zu heilen.

Um diese tiefe Entfremdung und Entwurzelung zu heilen, ist es notwendig, dass wir Menschen unser Mitgefühl entwickeln. Insbesondere unser Mitgefühl zu unserer natürlichen Mit-Welt. Dieser Akt setzt einen Prozess der Selbst-Versöhnung voraus, was bedeutet, dass wir Menschen uns wieder vermehrt unserer Binnen-Natur zuwenden. Wenn wir uns liebevoll der eigenen Natur zuwenden, so werden wir dadurch auch die äussere Natur als uns verwandt erkennen können. Dadurch kann der Heilungsvorgang eingeleitet werden.

Die Binnen-Natur des Menschen
Dazu zähle ich folgende Bereiche:

  • Das Gefühl für die psycho-somatische Einheit und Integrität der eigenen Leiblichkeit.
  • Das Empfinden des Organismus und die Intuition für seine zuträgliche Ernährung.
  • Mündiges, intuitives und selbstverantwortliches sexuelles Fühlen und Handeln.
  • Das Erspüren der Balance zwischen Selbst-Anforderung und Behutsamkeit.
  • Die nötige Intuition für ein ganzheitliches, vielfältiges Alltagsleben mit sich, den Mitmenschen und der Natur.
  • Die Einsicht, dass wir körperliche, seelische und geistige Wesen sind.

Es ist insbesonders der weibliche und mütterliche Bereich unseres Menschseins, der wieder in unsere Ganzheit integriert werden müsste, die wir sind. Durch die Zurücknahme dessen, was wir ausgegrenzt und abgespalten haben, werden wir wieder in sich ruhende und verwurzelte Menschen sein können.

Dies ist meine/unsere Hoffnung: Durch meditative Atemarbeit und durch eine visionäre und praktische Rückkehr zu unserer eigenen Natur, wie zur Natur «da draussen» werden wir uns mit dem unbewusst so vermissten Weltenkörper wiedervereinigen und werden dadurch zur Ruhe des fliessenden Lebens finden. Die Wunde wird sich schliessen durch das neue Erleben einer innigen Zusammengehörigkeit zwischen innen und aussen, zwischen unserer eigenen Seele und der Weltseele, zwischen Frau und Mann. Diese Heilungsarbeit setzt voraus, dass wir unsere Zerrissenheit erkennen und wir verstehen, dass es Sinn macht, uns am Heilungsvorgang zu beteiligen.
Bei unserer Wiedervereinigung wird unser Atem gross** und unsere Ganzheit als ungeteilte Menschen umfassen – all-umarmend. Menschheit und Erde leben nun in unserem Atem-Raum. Es wird sich Frieden einstellen und Freude wird aufkommen.

*So etwas darf nicht hingenommen werden!

**vergleiche den Beitrag zu ATEM 1 + 2

Zum Titelbild: «Der blaue Planet» Bild von Werner Binder

ATEM – Teil 2

Im ersten Teil des Artikels «Atem» versuchte ich aufzuzeigen, dass uns die Mittel gegeben sind, um uns zu entfalten und in eine höhere Schwingung, in ein höheres Bewusstsein zu gelangen. Dies gilt vor allem für unser Atemsystem, mit welchem wir mit unserem Körper, unserer Seele und unserem Geist verbunden sind.

Der Atem, insbesondere in Kombination mit Wort (Mantra) und Stimme (Klang) helfen uns die Gedanken-Schwere und die damit verbundene Trägheit unseres Alltags-Bewusstsein zu überwinden.

Was meine ich mit Gedanken-Schwere? Viele Gedankenformen sind aufgeladen mit der Vorstellung, dass wir alles mit Leistung zu erringen haben, dass auch nur Wenige Erfolg haben können, nämlich die Stärkeren. Die beiden spirituellen Wege/Methoden helfen uns, unser Bewusstsein auszuweiten und zu erfahren, dass alles da ist, was wir benötigen,um uns zu entfalten.

Das Herzensgebet
Das Gebet entstand bei den Wüstenvätern und Wüstenmüttern in Ägypten, entwickelte sich weiter bei den Mönchen auf Berg Athos und verbreitete sich vorerst in Ost-Europa.
Es ist ein mantrisches Gebet. Die wenigen Worte, die bei jedem Atemzug gedacht, gesagt und gefühlt werden, sollen sich von der Zunge ins Herz fortpflanzen. Ziel ist, dass das Herz selbsttätig und fortwährend betet. – Beten bedeutet in Resonanz mit unserem innersten göttlichen Kern zu kommen.

Eine ursprüngliche Formel lautet: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes (beim Einatmen), erbarme dich mir/unser (beim Ausatmen).
Eine verkürzte Formel: Jesus Christus (einatmen), Barmherzigkeit (ausatmen)

oder nur:
Jesus (einatmen) – Christus (ausatmen).

Es ist sinnvoll, zwischen dem Ein und Aus des Atems eine kleine Pause zu machen; in ihr entfaltet sich das Bewusstsein der Einheit, des Einsseins.

Die Worte können zu Beginn gesagt oder gesungen werden. Beim Einatmen sollen sie den Weg zum Herzen finden und beim Ausatmen sollen sie rundum verströmen. Während das Mantra zu Beginn gesagt wird, entwickelt es sich nach einiger Zeit zur gefühlten, erlebten und erfahrenen Wirklichkeit. Was erfahren wird ist Barmherzigkeit, Liebe, Mitgefühl, Schutz und Segen. Dabei wird der Atem sehr weit, kosmisch, alles umhüllend, lichtvoll und wärmend. Natürlich werden nicht bei jedem Menschen genau dieselben Gefühle geweckt*. Im tiefsten Seelengrund wird aber die bedingungslose Liebe und Akzeptation, wie sie in Christus lebt, aktiviert und die Beziehung zu seiner Wesenheit, die immer jetzt präsent ist, vertieft sich dabei.
Es ist der Dreiklang von Wort/Stimme – Atembewusstsein – und die Ausrichtung auf das Herz, die zusammen die Wandlung und die Erfahrung der Ausweitung des psychischen Herzens schneller und nachhaltiger geschehen lassen, als wenn nur eines der genannten Elemente zum Ausdruck fände.
Normalerweise ist es so, dass Projektionen, hervorgerufen durch unsere Erziehung und durch kirchlichen Prägungen, die unmittelbare direkte Erfahrung der Christus-Wirklichkeit beeinträchtigen. Das Herzensgebet erlaubt uns wieder Zugang zu finden zur unmittelbaren, direkten Begegnung mit dem Christus, der dadurch in uns zum Erblühen kommt, wenn wir dazu bereit sind. Unser Beitrag aber wird Geduld sein müssen. Es ist wie bei einer zwischenmenschlichen Begegnung: Zwei, die sich voneinander angezogen fühlen, nehmen sich zuerst wahr, gehen zart aufeinander ein, bis die Seelen der Zwei in Schwingung kommen. Feinfühlig gehen sie dann in Resonanz mit der jeweiligen Schwingung des anderen. Sie treffen sich in der Mitte, im Binnen-Raum, zwischen ihren Herzen, wodurch die Beziehungsebene ins Wachsen kommt. Vielleicht wächst da eine Rose – oder wie auch immer wir es bildlich wahrnehmen. Es ist Hingabe-Bereitschaft, die eine Begegnung ermöglicht, in der es zu einem vertraulichen Austausch, zu Intimität kommt.
Beim Herzensgebet ist die Bereitschaft, eine Liebes-Beziehung zu wagen zentral.

Genau so ist es bei allen Arten von zwischenmenschlichen Liebes-Beziehungen: Wir brauchen den Mut, unser Sicherheits-Dispositiv hinter uns zu lassen, uns verletzlich zu zeigen, uns rückhaltlos zu öffnen. Erst dann kann das Herzensgebet, das seine dazu beitragen.

Tonglen
Diese Atem-Meditation, welche die Entfaltung des Mitgefühls bezweckt, wird vor allem im tibetischen Buddhismus praktiziert:
Beim Einatmen verbinden wir uns mit dem Leiden, dem Schmerz von Lebewesen. Wir nehmen uns dieses Leid zu Herzen. Wir fühlen mit, lassen dieses Leid, diesen Schmerz im Lichte unseres Herzens wandeln in Segen, Glück und Wohlwollen für die betreffenden Wesen. Auf diese Weise atmen wir verströmend, schenkend, gebend aus.
Wir können mit uns selbst beginnen, indem wir unser eigenes Leiden anerkennen, verstehen, es in unserer Herzens-Lichtkammer in Glück und Segen verwandeln, den wir liebevoll uns zuatmen. Dasselbe könne wir tun für das Leiden unserer Freunde und unserer Feinde, auch für Gruppen von Menschen oder Völker – schliesslich für das globale Leid, für den gepeinigten Planeten, die ausgebeutete Natur.

Bei dieser wunderbaren Meditation ist es wichtig, dass wir das Tonglen gut vorbereitet beginnen. Wir erden uns zuerst gut, verbinden uns mit der Welten-Seele, öffnen unser Herz und lassen es warm und anteilnehmend werden. Dann beginnen wir die Tonglen-Atmung wie beschrieben.

Auf diese Weise kann der Graben zwischen uns und den anderen überwunden werden. Wir erleben, dass wir alle zusammengehören.

Das Herzensgebet und das Tonglen sind zwei Wege, wie wir uns bei der Heilung von uns selbst, wie auch dem Planeten beteiligen können/dürfen. Dabei kann es geschehen, dass wir uns als leuchtende und strahlende Wesen erleben können, was unserer wahren Natur entspricht.

Natürlich gibt es zahlreiche Literatur für die hier in Kürze vorgestellten Atem-Meditationen.

*Uns werden immer jene Qualitäten zuerst zufallen, die wir gegenwärtig besonders benöti-
gen und sie werden jene körperlichen und seelischen Regionen berühren, in denen ein
Mangel und ein Bedürfnis zu erkennen ist. Dies ist eine der Weisen, wie die Liebe wirkt.